Jeder hat eigene Bedürfnisse. Die Pflege der Zukunft muss vor allem individuell sein.

Grafik: Francesco Cioccolella

Drei Jahre lang habe ich allein gewurschtelt, den Garten selbst gepflegt, den Haushalt gemacht." Margarita Steindl sitzt in ihrem Wohnzimmer und erzählt von der Zeit nach dem Tod ihres Mannes vor acht Jahren. Sie hat sich hübsch zurechtgemacht, trägt goldenen Schmuck und Lippenstift. Irgendwann sei ihr alles zu viel geworden. Eines Nachts ist sie die Treppen hinuntergestürzt, hat sich drei Wirbel gebrochen und musste ins Spital. "Dann hat meine Tochter gesagt, dass ich eine Pflegerin brauche. Dagegen habe ich mich lange gewehrt, ich wollte keine fremde Person im Haus haben. Irgendwann habe ich dann aber eingesehen, dass es nicht anders geht", erzählt Steindl.

Vor ihr auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Hörbuch-CD, der Fernseher steht ganz nah an der Couch. Steindl ist agil, dennoch hat sie Pflegestufe 5. Der Grund: Die 83-Jährige leidet an einer Makuladegeneration, sieht sehr schlecht. Durch die Augenerkrankung ist sie im Alltag stark eingeschränkt, kann nicht mehr lesen, ihre Medikamente nicht allein nehmen, im Haushalt kaum etwas machen und keine Telefonnummern wählen. "Im Fernseher sehe ich nur Dinge, die ganz nah an der Kamera sind", erzählt sie.

Starke Verbindung

Um ihr großes Handicap auszugleichen, hat Steindl im Alltag Unterstützung von zwei Betreuerinnen aus der Slowakei. Lenka und Katharina leben seit fast einem Jahr abwechselnd mit Steindl in ihrem Haus in Wiener Neudorf. "Heute würde ich nicht mehr ohne die beiden sein wollen. Ich könnte mir gar nicht vorstellen, jeden Tag alleine dazusitzen. Wir tratschen, unterhalten uns über ihre Familien – da gehöre ich schon ein bisschen dazu", sagt Steindl.

Auf das Thema Pflegeheim angesprochen, schüttelt sie energisch den Kopf. "Das hat meine Tochter von vornherein ausgeschlossen." Auch Steindl selbst könnte sich ein Leben in einem Heim nicht vorstellen. "Solange es irgendwie geht, will ich daheim bleiben. Es gibt ja auch total demente Leute, die sogar Windeln tragen müssen und zu Hause gepflegt werden." Ohne ihren Garten? Das könne sie sich überhaupt nicht vorstellen. "Ich hänge wahnsinnig daran."

Auch Gertrud Scheifinger hat früher in einem Haus mit Garten gelebt. Heute wohnt die 84-Jährige im Senecura-Sozialzentrum in Ternitz. Sie ist ins Heim übersiedelt, weil sie von ihrer Tochter nicht immer verlangen wollte, zu ihr zu kommen, wenn sie Hilfe gebraucht hat. "Und daheim wäre ich den ganzen Tag alleine, denn die Nachbarn sind alle weggestorben", sagt Scheifinger.

Nicht alleine sein

Hier im Heim sei immer jemand da, wenn sie etwas brauche. "Dann hat die Vernunft gesiegt. Beim Einzug habe ich mir gesagt: 'Ich probiere es mal.' Und dann habe ich nach einem halben Jahr das Haus verkauft und das auch nie bereut. Im Heim fühle ich mich wohl, bin hier zu Hause. Und es ist so viel los, dass mir die Zeit zu kurz wird", erzählt sie. Mit einer 24-Stunden-Betreuung hat Scheifinger schlechte Erfahrungen gemacht, als ihr Mann noch am Leben war und zu Hause betreut wurde. "Es kamen sehr unterschiedliche Personen, manchmal haben Gegenstände gefehlt, und manche haben Telefonate nach Hause auf meine Kosten geführt. Und nachdem ich alleine bin, hatte ich auch Angst, dass sie mit mir tun, was sie wollen", spricht sie ganz offen über ihre Ängste.

"Heim oder daheim?", vor dieser Frage stehen Familien dann, wenn eine Person den Alltag zu Hause nicht mehr allein bewältigen kann. Neben dem Grad der Pflegebedürftigkeit, finanziellen und infrastrukturellen Faktoren beeinflussen dabei vor allem Emotionen die Betroffenen. 85 Prozent aller Pflegegeldbezieher in Österreich leben zu Hause, nur 15 Prozent in einem Heim. Diese Zahlen spiegeln eine tief verwurzelte Angst vieler Menschen vor der Institution Pflegeheimwider. "Das Leben zu Hause hat für einen Großteil der Menschen oberste Priorität", sagt Eva Schulc von der Privaten Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik in Hall in Tirol.

Bröckelndes Image

"Das schlechte Image von Pflegeheimen kommt aus der Fremdbestimmtheit und daher, dass der Übergang in ein Heim etwas Definitives hat. Für viele Menschen bricht in ihren Augen damit der letzte Lebensabschnitt an", sagt Martin Nagl-Cupal, stellvertretender Vorstand des Instituts für Pflegewissenschaft an der Universität Wien. Er ist jedoch auch der Meinung, dass das schlechte Image bröckelt, weil in den Institutionen die Bedürfnisse der Bewohner immer mehr in den Mittelpunkt rücken. "Die eigene Wohnung mit den damit verbundenen Erinnerungen aufzugeben fällt vielen Menschen nicht leicht. Außerdem ist die Pflegebedürftigkeit selbst schwer zu akzeptieren, das Heim wird auch unter diesem Aspekt gesehen", weiß auch Anton Kellner, Geschäftsführer der Senecura-Gruppe.

Doch nicht nur die Emotionen von Pflegebedürftigen selbst, auch die der Angehörigen spielen bei der Entscheidung eine Rolle. "Für viele ist es eine Selbstverständlichkeit, dass ihr Familienmitglied zu Hause bleiben kann." Das ergibt sich mitunter aber auch aus den Einflüssen der Umwelt. Eine von ihm betreute Masterarbeit, so Nagl-Cupal, habe kürzlich eindeutig gezeigt, dass Töchter von Demenzkranken auf dem Land ihre Eltern zu Hause pflegen, weil sie glauben, die Nachbarn würden das erwarten.

Von langer Hand geplant

Auch das familiäre Umfeld spielt bei der Entscheidung eine Rolle. Gibt es noch einen Partner, stellt sich die Frage des Heims oft erst später, weiß Nagl-Cupal. "Die Trennung kommt für manche Paare gar nicht infrage", sagt Kellner. Dann wird eine 24-Stunden-Betreuung zur Option. Ist der Partner gestorben, ist es für viele Menschen einfacher, in ein Pflegeheim zu übersiedeln. "Mein Gatte ist verstorben, dadurch ist es mir leichter gefallen", sagt auch Scheifinger.

Für ein Heim spricht oftmals, dass sich die Menschen in ihrem eigenen Zuhause einsam fühlen, die Wohnung nicht barrierefrei ist oder sie sich im Alltag nicht mehr sicher fühlen. "Es gibt auch Menschen, die gern ins Pflegeheim übersiedeln, den Umzug von langer Hand planen. Letztlich komme es darauf an, so Nagl-Cupal, wie sich ein Mensch in das "andere" Wohnsetting eindenken kann.

Gesellschaftliche Trends

Und in Zukunft? Wird es der jungen, mobilen Generationen von heute später leichter fallen, im Alter im Heim zu wohnen? "Es kann sein, dass sie die Mobilität aus ihrem Leben kennen und deshalb eher in ein Heim ziehen", sagt Nagl-Cupal und spricht damit einen möglichen Zukunftstrend an, verweist aber gleichzeitig auch auf weitere, immer wichtiger werdende gesellschaftliche Attribute: Individualität, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit – Argumente, die wiederum eher für die persönliche 24-Stunden-Betreuung sprechen. "Die Menschen werden in Zukunft noch mehr darauf erpicht sein, ihr eigenes Leben zu steuern und nicht ins Heim zu müssen", glaubt hingegen Schulc.

Das Leben mit einer Betreuungskraft in den eigenen vier Wänden ermöglicht jedenfalls weitaus mehr Individualität. Das wird aus Margarita Steindls Erzählungen ebenfalls klar. Ihren geliebten Hund Timmy, so sagt sie, hätte sie ins Pflegeheim nicht mitnehmen können. Zudem fährt sie in wenigen Wochen mit ihrer Betreuerin Katharina in den Urlaub. "Einmal im Leben möchte ich noch das Meer sehen. Das geht nur, weil ich meine Pflegerin mitnehmen kann", sagt sie.

Auf dem Vormarsch

Welches Betreuungsmodell sich schlussendlich durchsetzt, könne heute nur schwer prognostiziert werden. Die Experten sind sich jedenfalls einig, dass neue Wohnformen für die ältere Generation stark auf dem Vormarsch sind. Dazu zählen betreutes Wohnen, Alten-WGs, Seniorenwohnen auf dem Bauernhof oder auch Wohnen mit Concierge. Auch digitale Formen der Unterstützung setzen sich zunehmend durch, etwa Überwachungssysteme, die mittels Sensoren die Angehörigen über die Vorgänge in der Wohnung einer an Demenz erkrankten Person auf dem Laufenden halten. "Es gibt viele alternative Ideen, die den Vorstellungen der Jungen näher sind", so Nagl-Cupal.

Klassische Pflegeheime bemühen sich ebenfalls auch heute schon, auf die individuellen Bedürfnisse zu reagieren. "Es wird in Zukunft mehr Möglichkeiten geben, sich in die Gestaltung des neuen Wohnumfelds einzubringen. So könnte jemand, der gern schreibt, einen Newsletter für die Einrichtung verfassen, Hobbygärtner wirken bei der Gartengestaltung mit, Senioren, die gern kochen, bieten einmal pro Woche eine Kochstunde an", sagt Kellner. Jetzt schon ermöglicht Senecura seinen Bewohnern in manchen Pflegeheimen, die Haustiere mitzunehmen. Und sogar ein Urlaubsaustausch ist möglich. Ein Bewohner kann so seinen Urlaub in einem anderen Senecura-Haus in ganz Österreich verbringen, inklusive Betreuung. So individuell wie der Urlaub von Margarita Steindl ist das gewiss nicht, denn Österreich liegt ja schließlich auch nicht am Meer. (Bernadette Redl, 9.4.2018)