Es wirkt alles ganz normal. Ein milder Frühlingsnachmittag, ab und zu lässt sich die Sonne blicken, immer wieder nieselt es leicht. Ein paar Frauen und Männer sitzen im Restaurant, trinken entspannt Kaffee, essen Kuchen. Auf dem Dorfplatz läutet der Eismann seine Glocke, doch heute wartet er vergeblich auf Kundschaft. Ein paar Meter weiter steht Ove Hansen auf seiner Terrasse und füttert Hühner. "Hühnerflüsterer" nennen sie ihn hier, in Dänemarks erstem Demenzdorf, das im November 2016 eröffnet wurde.

In der Hafenstadt Svendborg auf der Insel Fünen steht das erste "Demenzdorf" Dänemarks. Insgesamt leben dort 125 Demenzkranke.
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Tatsächlich ist es mehr eine großzügige Siedlung, die im Zentrum der 27.000-Einwohner-Stadt Svendborg liegt. Liebevoll blickt Ove Hansen auf die braungefiederten Tiere. "Manchmal besuchen sie mich auch im Wohnzimmer", erzählt er stolz. Der knapp 60-jährige, vollbärtige Mann lebt in einem Zwei-Zimmer-Apartment. Bad, Toilette, Wohn- und Schlafzimmer, mehr braucht er nicht. Gekocht wird in Gemeinschaftsküchen. Insgesamt gibt es 125 Wohnungen in der Svendborg Demensby. Ziel ist es, so lange wie möglich Normalität im Leben seiner Bewohner zu sichern.

Das Konzept ist nicht unumstritten. Kritiker meinen, dass die Bewohner vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen werden.
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Demenz heißt: Kognitive Fähigkeiten gehen zunehmend verloren, die räumliche und zeitliche Orientierung nimmt ab, die Hilfsbedürftigkeit steigt. Ein Friseurbesuch, einkaufen, Spaziergänge machen – was früher einmal selbstverständlich war, ist nicht mehr möglich. Das ist aber nur eine Seite der Medaille, wie Pflegeleiterin Annette Søby betont. "Menschen mit Demenz sind häufig körperlich noch sehr fit, sodass klassische Pflegeheime ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten nicht gerecht werden."

Das Gehirn vergisst zunehmend, doch der Körper ist noch fit.
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Dementsprechend breit ist das Angebot für die Bewohner des Dorfes. Es gibt eine Boutique, in der Kleidung, Schmuck und Kosmetikartikel verkauft werden, ein kleines Lebensmittelgeschäft, Frisör, Bibliothek, Restaurant, Café, Fitnessstudio, einen Tanzsaal und Herrensalon. In dem etwa 25.000 Quadratmeter großen Areal wurde ein Park und ein Teich angelegt, ein Hühnerstall gebaut, Gemüse- und Erdbeerbeete gepflanzt. Die Menschen, die hier leben, kümmern sich um die Tiere und Pflanzen, helfen beim Ernten und Kochen. Jeder tut, was er noch kann, Betreuung gibt es je nach Bedarf. Im Sommer können die Bewohner auf der großen Wiese ihre Zelte aufschlagen. "Urlaub machen", sagt Annette Søby dazu.

Demenzkranke wegsperren

Die Planer von Svendborg Demensby fühlten sich durch das weltweit erste Demenzdorf namens De Hogeweyk in der Nähe von Amsterdam inspiriert. Auch dort gibt es einen kleinen Supermarkt und ein Kaffeehaus. Sogar eine Bushaltestelle wurde installiert. Nur: Bezahlen können die Bewohner auch mit Knöpfen, auf den Bus warten die Menschen hier vergeblich.

Das brachte dem Projekt auch Kritik ein. Von einem Disneyland war die Rede, in dem alles nur Simulation sei, von Normalität keine Spur. Was für zusätzlichen Diskussionsstoff sorgte: Die Bewohner können das Demenzdorf nicht durch die Eingangstür verlassen, zudem ist das Gelände eingezäunt.

Auch in Svendborg gibt es einen solchen Zaun. An den meisten Stellen ranken sich Pflanzen an ihm entlang, manchmal wird der 150 Zentimeter hohe Maschendraht aber sichtbar. Die dänische Alzheimer-Gesellschaft äußerte Bedenken dahingehend, dass die Bewohner in Svendborg von der Umwelt abgeschnitten werden.

"Es macht uns Sorgen, dass man spezielle Demenzdörfer baut, in denen Betroffene vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen werden", so Nis Peter Nissen, Präsident der Gesellschaft. Diese Kritik kann Annette Søby nicht nachvollziehen. Anders als in De Hogeweyk werden die Bewohner in Svendborg nicht eingesperrt. "Das ist in Dänemark gesetzlich verboten", betont die Pflegeleiterin. Im Prinzip könne jeder in die Nachbarschaft rausgehen, vorausgesetzt er findet die Tür, die sich etwas versteckt an einer Seitenwand befindet. Auch über den Zaun zu klettern sei für viele Bewohner kein Problem. Trotzdem macht das so gut wie nie jemand.

"Sollte sich tatsächlich einmal ein Bewohner draußen verirren, dann können wir ihn im Notfall mit GPS orten, das sich in den Schuhen befindet. Dazu müssen aber die Angehörigen ihre Einwilligung geben", erklärt Søby.

Kognitive Rampen

Was auffällt: Es ist angenehm ruhig, die Menschen wirken entspannt, werden nicht von der Rastlosigkeit geplagt, die viele von Demenz Betroffene ansonsten antreibt. Eine etwa 80-Jährige Dame steht an der Kassa der Boutique. Im Gegensatz zum niederländischen Modell wird hier mit Geld gezahlt. In fließendem Englisch erzählt sie, dass sie manchmal die Preise der Waren falsch eintippt oder zu wenig Wechselgeld herausgibt. In solchen Fällen helfe aber ohnehin das Pflegepersonal.

Pin-Up-Girl und Dartscheibe: Wir befinden uns im Herrensalon.
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Möglicherweise liegt die gute Atmosphäre auch daran, dass die Räume nach den Regeln der demenzfreundlichen Architektur gestaltet wurden. Es sind Dinge, die auf den ersten Blick nicht auffallen. So wurden durchgängig unlackierte Holzböden verlegt, denn glatte, glänzende Oberflächen irritieren Demenzkranke, da der Boden nass wirkt und aus Angst vor Stürzen gemieden wird.

In allen Räumen wurden matte Holzböden verlegt. Glänzende Oberflächen könnten die Bewohner irritieren.
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Jeder Raum hat sein farbliches Leitmotiv. In der Bibliothek steht ein weinrotes Sofa, sämtliche Stühle und Ohrensesseln sind mit rotem Stoff bezogen. In einer Vase stehen rote Tulpen, auch die Vorhänge entsprechen dem Farbsystem, das den Bewohnern Orientierung und damit Halt geben soll. In der Küche dominiert hingegen Blau. "Kognitive Rampen bauen", heißt das in der Fachsprache.

Das farbliche Leitmotiv der Bibliothek: Rot.
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Der Park ist so übersichtlich, dass sich kaum jemand verirren kann. Wer spazieren gehen will, tut das einfach. Auch allein. Annette Søby dazu: "So paradox das klingen mag, aber um den Bewohnern diese Freiheit geben zu können, brauchen wir den Zaun." (Günther Brandstetter, CURE, 13.7.2018)