Ein wirksames Medikament zu finden kann Patienten wie Psychiatern viel Geduld und Fingerspitzengefühl abverlangen.

Illustration: Francesco Ciccolella

Individualität wird in unserer westlichen Gesellschaft großgeschrieben. Bei einer überaus wichtigen Sache lassen wir uns aber alle über einen Kamm scheren: beim Kranksein. Wir greifen zu Einheitsmedikamenten, die für die breite Masse entwickelt worden sind. Dabei reagieren Patienten teilweise sehr unterschiedlich auf einzelne Wirkstoffe. Das gilt besonders für psychische Leiden, bei denen die Erkrankungen viele unterschiedliche Variationen zeigen können.

Depression beispielsweise ist nicht gleich Depression. Vielmehr steckt hinter dieser Diagnose ein Sammelsurium an Ursachen, seelischen und körperlichen Symptomen und Krankheitsverläufen. Bis heute stellt ein Psychiater eine Diagnose psychischer Störungen nicht auf der Basis objektiver Tests, sondern allein anhand der Symptome, die der Patient zeigt oder von denen er berichtet.

"Das Problem in der Psychiatrie ist, dass die Diagnosen nicht so eindeutig nachweisbar sind wie meist in der somatischen Medizin", sagt Gerhard Lenz, Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin in Wien. Diagnosen wie "Depression" oder "Schizophrenie" sind durch bestimmte Ein- und Ausschlusskriterien definiert, können allerdings auf sehr unterschiedlichen Symptomen beruhen. "Durch diese Heterogenität ist es auch sehr schwierig, die zugrunde liegenden biologischen Mechanismen zu bestimmen."

Gene und Diagnosen

In der Folge ist es kein Wunder, dass der eine Betroffene viel besser auf das vom Psychiater verordnete Medikament A anspricht, dem anderen Patienten wiederum Medikament B deutliche Linderung verschafft. Vorausgesetzt die psychisch Kranken sprechen überhaupt darauf an. Denn Antidepressiva zum Beispiel zeigen nur bei etwa 40 bis 60 Prozent der Patienten eine Wirkung. Welche Medikamente wie lange und in welcher Dosierung verschrieben werden, bleibt dabei bisher der Intuition des behandelnden Arztes überlassen und beruht vielfach auf Versuch und Irrtum.

In der Psychiatrie möchte man daher einen anderen Weg einschlagen und hat eine große Vision für die Zukunft: eine Behandlung auf einzelne Patientenuntergruppen individuell zuschneiden. Um diesem Ziel einer personalisierten Psychiatrie näherzukommen, ist man seit vielen Jahren auf der Jagd nach sogenannten Biomarkern, – per Labortest feststellbaren biologischen Kennzeichen wie Genvarianten, die als Anhaltspunkte für eine bessere Diagnose und Behandlung dienen sollen. Und was solche Labortests angeht, ist man auch durchaus fündig geworden.

Manche setzen sie schon in der Behandlung ein, so wie Siegfried Kasper, Leiter der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Uni Wien. Er und seine Kollegen prüfen im Vorfeld der Behandlung das gesamte genetische Profil der Patienten. "Wir schauen dann beispielsweise nach, ob bestimmte Patienten die Medikamente zu schnell oder zu langsam abbauen", sagt Kapser.

Auf den Stoffwechsel achten

So werde etwa das Antidepressivum Citalopram über Enzyme der Cytochrom-P450-Familie in der Leber verstoffwechselt und abgebaut. "Hat ein Patient eine genetische Variante dieser Enzyme, die das Medikament schneller verstoffwechselt und verstärkt abbaut, dann verabreichen wir eine höhere Dosis als die standardmäßig vorgeschriebene."

Zudem interessiert den Psychiater Kasper, in welcher genetischen Variante der Transporter von Serotonin vorliegt, da er das Ansprechen auf Antidepressiva beeinflusst. Dieser Transporter bringt das einmal freigesetzte "Glückshormon" aus dem synaptischen Spalt zwischen den Nervenzellen zurück in die Zelle und reduziert somit die Wirkung des Botenstoffs.

Ein typisches Antidepressivum vom Typ der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer setzt genau an diesem Punkt an und sorgt für eine erhöhte Verfügbarkeit von Serotonin im Gehirn. "Kommt nun das Gen für den Serotonintransporter bei kaukasischen Menschen in einer langen Variante vor", so Kasper, "dann sprechen sie besonders gut auf Antidepressiva an, die auf das Serotoninsystem einwirken, – und diese könnten daher bevorzugt eingesetzt werden."

Im Belohnungszentrum

Neben genetischen Markern fahnden Forscher aber ebenso im Gehirn von Patienten nach aussagekräftigen Veränderungen, die mit psychischen Störungen einhergehen. Allerdings ist man hier noch nicht ganz so weit. Das weiß Oliver Gruber aus eigener Erfahrung nur zu gut.

In Heidelberg hat der Leiter der Sektion für Psychopathologie und Bildgebung am dortigen Uniklinikum zusammen mit Kollegen 2017 eine Spezialambulanz für personalisierte Psychiatrie eröffnet. Bisher handele es sich um eine reine Forschungseinrichtung, dämpft er gleich zu Beginn des Gesprächs die Erwartungen.

Gleichwohl ist Gruber aber für die Zukunft zuversichtlich: "Bei depressiven Menschen etwa zeichnet sich mittlerweile immer deutlicher ab, dass bei ihnen zumeist das Belohnungssystem im Gehirn verändert ist." Und anhand von Reaktionen des Belohnungssystems könne man Untergruppen von depressiven Patienten finden, die sich rein anhand von Symptomen nur schwerlich unterscheiden lassen.

Antidepressiva beeinflussen Botenstoffe im Gehirn

Gruber präsentierte den Probanden in einer Studie farbige Vierecke auf einem Bildschirm, die mit der Erwartung einer Belohnung verknüpft waren. "Der Nucleus accumbens, eine Hirnregion des Belohnungssystems, reagierte bei einer Gruppe von depressiven Patienten angesichts der dargebotenen Belohnungsreize kaum." Und genau diese Patienten sprachen im Rahmen eines stationären Aufenthalts sehr gut auf selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer als Antidepressiva an.

Bei einer anderen Gruppe konnte Gruber genau das Gegenteil beobachten. "Ihr Nucleus accumbens regte sich angesichts der Belohnungsreize übermäßig, und sie sprachen nicht auf die Behandlung mit den Wiederaufnahmehemmern an." In einer daran anknüpfenden Studie konnte er dann belegen, dass genau diese Patienten andererseits sehr von einer Behandlung mit einem moderneren Antidepressivum profitierten. Es wirkte auf das Dopaminsystem, einem weiteren wichtigen Botenstoffsystem im Gehirn.

Und darin könnte genau die Erklärung liegen: Die verschiedenen Antidepressiva beeinflussen eben auch verschiedene Botenstoffe im Gehirn auf unterschiedliche Art und Weise. Wenn die jeweiligen Wirkungen der Antidepressiva zu den individuellen Veränderungen der Gehirnfunktion gut passen und diese rückgängig machen, ist die Therapie erfolgreich.

Dopamin und Glutamat

Ähnliches erhofft sich Gruber bei der Behandlung von Schizophrenie. Auch diese psychiatrische Erkrankung zeigt viele unterschiedliche Erscheinungsformen und Ausprägungen, und dementsprechend fällt eine gezielte Behandlung schwer. Allerdings weiß man bereits, dass Patienten mit sogenannten Positivsymptomen wie Halluzinationen in der Regel gut auf Antipsychotika ansprechen.

Betroffene mit Negativsymptomen wie einer Verarmung der Gemütsregungen zum Beispiel profitieren hingegen davon meist nicht. "Die Idee ist schon länger, dass die Positivsymptome über das Dopaminsystem im Gehirn vermittelt sind, die Negativsymptome hingegen stärker über das Glutamatsystem", sagt Oliver Gruber. Es gebe überdies erste Hinweise, dass man auch sonst Untergruppen von Patienten anhand der Hirnaktivierungen unterscheiden kann und dahingehend die Behandlung individueller zuschneiden kann. "Aber da stehen wir noch ziemlich am Anfang."

Biomarker entdecken

Überhaupt können all die anfänglichen Erfolge und auch erste Einsätze in der Praxis über eines nicht hinwegtäuschen: Ob nun genetische Marker oder auffällige Veränderungen im Gehirn – die Biomarker sind derzeit alles andere als bereit für den Routineeinsatz in der klinischen Praxis.

Arbeitsgruppen der World Federation of Societies of Biological Psychiatry kamen in zwei Berichten von 2016 und 2017 im Fachblatt "The World Jorurnal of Biological Psychiatry" zu folgendem Ergebnis: Man habe zwar im Falle der Depression und der Schizophrenie verschiedene vielversprechende Biomarker für eine potenzielle Therapie der Zukunft entdeckt, doch deren Nutzen jenseits des Labors sei derzeit noch keineswegs eindeutig belegt.

Das sieht auch Psychiater Siegfried Kasper so: In den Leitlinien der Österreichischen Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie heiße es, dass es zwar Biomarker für die Behandlung von psychischen Erkrankungen gebe. "Doch keiner dieser Marker hat sich in der Praxis so bewährt, dass man ihn standardmäßig einsetzen muss." Bei all dem Potenzial für die Zukunft steckt die personalisierte Psychiatrie heute noch ziemlich in den Kinderschuhen. (Christian Wolf, CURE, 22.6.2018)