Schriftsteller, Essayist und wortgewaltiger Advokat der Überwindung von Rassenschranken: James Baldwin, der stets auch Wert auf dandyhaftes Auftreten legte.

Camera Press

"Neger!, Neger!", rufen die Kinder im Schweizerischen Leukerbad vergnügt, wenn sie dem schwarzen Mann auf der Straße begegnen. Es ist das erste Mal in ihrem Leben, dass sie einen Menschen mit dunkler Hautfarbe sehen. "Es gab kein Anzeichen einer absichtsvollen Unfreundlichkeit, doch nichts ließ darauf schließen, dass man mich für ein menschliches Wesen hielt: Ich war einfach ein lebendes Wunder."

Im Winter 1951 verbrachte James Baldwin ein paar Wochen im Chalet seines Schweizer Geliebten auf den Bergen, er wollte Abstand von Paris und seiner nordamerikanischen Heimat gewinnen, deren Rassismus ihn auch im selbstgewählten Exil nicht losließ. In dem Essay Ein Fremder im Dorf, der 1953 erstmals im Harper's Magazine erschienen ist und später in Notes of a Native Son Eingang fand, hält er das fast surreale Geschehen fest, das ein koloniales Muster umkehrt: die erste Begegnung des weißen Mannes in Afrika mit einem Schwarzen. Der Unterschied zum Eroberer auf dem schwarzen Kontinent könnte freilich nicht größer sein.

Das naive Erstaunen, das Baldwin entgegenschlägt, schreibt er, war für den weißen Mann in Afrika noch eine Form der Anerkennung. Denn dieser war gekommen, um zu erobern und zu bekehren. Der schwarze Amerikaner hingegen sieht sich selbst hoch oben in den Bergen einer Kultur gegenüber, die ihn kontrolliert, die ihn "auf gewisse Weise erst erschaffen hat".

Baldwin begleitete die Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre: kritisch und passioniert.

Der Essay eignet sich gut als Einführung in jene Dichotomien, die für das Werk dieses großen Schriftstellers bestimmend sind. Baldwins Texte haben über die Jahrzehnte hinweg nichts an Leidenschaft und Schärfe verloren. Klug und jedes Wort mit Bedacht wählend und noch in der Erregung stets aufs Argument bedacht, seziert er das Verhältnis des schwarzen Amerikaners zur weißen Mehrheit, das sich nicht von der Geschichte der Sklaverei befreien kann, weil es sich ihr nie ausreichend gestellt hat. "You're the nigger, baby, it isn't me", gab Baldwin 1963 auf charakteristisch kecke Weise seinem Interviewer zu verstehen. Das Problem landete wieder beim Sender.

In den letzten Jahren erlebte der 1987 gestorbene Autor eine bezeichnende Renaissance. Der haitianische Filmemacher Raoul Peck hat mit I Am Not Your Negro einen collagehaften Dokumentarfilm über die politischen und filmischen Reflexionen Baldwins gedreht, in dem nicht nur die Worte, sondern auch die Präsenz des Autors betören. Eine jüngere Generation von Autoren wie Ta-Nehisi Coates, Teju Cole oder Natasha Tretheway besinnt sich wieder auf Baldwin, der mit der Bürgerrechtsbewegung eng verbunden war. Der Afroamerikanist William J. Maxwell bezeichnet ihn gar als intellektuellen Vater von Black Lives Matter, der Bewegung, die seit 2013 offensiv gegen die Polizeigewalt gegen Schwarze sowie Rassenungleichheit eintritt.

Black Lives Matter kämpft gegen Diskriminierung. Baldwins Schriften dienen als Referenzpunkte.

Ob die größere Präsenz afroamerikanischer Kultur im Mainstream an den dahinter weiter wirksamen Ungleichheiten etwas verändert hat, ist eine spannende Frage. Der Oscar-Erfolg eines schwarzen Independent-Filmemachers wie Barry Jenkins, der in Moonlight von den Masken eines queeren Afroamerikaners erzählt, zeigt geradezu beispielhaft, wie sich die Darstellungsformen erweitern, bis in Nischen hinein; Baldwin, selbst Homosexueller mit dandyhaftem Auftreten, hätte den Film gewiss sehr gemocht. Auch dass ein Marvel-Superheld namens Black Panther zum Magneten für Massen wird, kündet von einer Verschiebung.

Die gleichnamige politische Organisation der 1960er-Jahre, die Baldwin einmal als den "einheimischen Vietcong" bezeichnet hat, ist deswegen jedoch kein Phantom einer verschütteten Vergangenheit. Das kulturelle Spektrum wächst, die Konflikte bleiben dennoch weiter wirksam. Anhänger der White Supremacy bilden die Speerspitze eines neu entflammten Rassismus, der seit Trump wieder ungehemmter agieren kann. Die Ausschreitungen in Charlottesville vom August vergangenen Jahres sind nur eines der Beispiele dafür, dass diese Verhärtungen auch tragische Opfer nach sich ziehen.

In Ein Fremder im Dorf wird zuerst der berühmte Satz von Stephen Dedalus aus James Joyces Ulysses zitiert, dass die Geschichte ein Albtraum sei, aus dem er zu erwachen versuche. Doch was, fragt nun Baldwin, wenn sich daraus nicht erwachen lässt? In Leukerbad, schreibt der nigerianisch-amerikanische Autor Teju Cole mehr als 60 Jahre später über Baldwin, als er auf dessen Spuren dorthin reist, finde dieser "die Gelegenheit, über die Anfangsgründe weißer Vorherrschaft nachzudenken. Es war, als begegneten sie ihm dort in ihrer elementarsten Form."

Tatsächlich findet er hier die Gelegenheit, über die Besonderheit des "amerikanischen Negers" nachzudenken. Dieser unterscheide sich von allen anderen Schwarzen dadurch, dass man ihm seine Vergangenheit und damit seine Subjektivität gestohlen hat. Es handelt sich um eine "für mehrere Generationen von Amerikanern so brennende Frage, dass sie schließlich dazu benutzt wurde, die Nation zu spalten".

Verrat an der Demokratie

Für Baldwin krankt Amerika, das sich so gern mit der Fahne der Freiheit schmückt, an diesem grundlegenden Verrat an der Idee der Demokratie. Man habe diese zwar in den Westen getragen, schreibt er, doch dabei den radikalen Bruch begangen, den Wohlstand auf der Sklaverei zu begründen. Die Idee der weißen Vorherrschaft generiert ihre eigene Moral. Weil sich die weiße Mehrheitsgesellschaft als Wächter und Beschützer der Zivilisation begreift, ist sie auch niemals dazu imstande gewesen, den schwarzen Amerikaner als Subjekt unter Gleichen anzuerkennen.

Baldwins Denken ist jedoch nicht revanchistisch ausgerichtet, vielmehr konfrontiert er den Täter mit seinem eigenen psychosozialen Dilemma: Wer den Schwarzen keinen Zutritt in die Familie der Menschheit gewährt, der leugne deren menschliche Realität; und die fatale Folge dieser Leugnung wirke sich in letzter Konsequenz auf sie selber pathologisch aus: "Die Wurzel des Problems mit dem ,amerikanischen Schwarzen' liegt in der Notwendigkeit des amerikanischen weißen Mannes, einen Weg finden zu müssen, mit dem ,Schwarzen' zu leben, um wieder mit sich selber leben zu können." Der einzige Weg zu einem würdevollen Dasein führt mithin über die Anerkennung der Schuld. Es ist keine Frage der Moral, sondern des Seelenheils.

Polyfilm

Im Unterschied zu Leukerbad, wo sich Baldwin durch seine Hautfarbe als Fremder objektiviert sieht, begreift er sich in den USA als Bürger, der seine auf steiniger Straße errungene Identität verteidigt. Vom Preis dieses Kampfes, seiner leidvollen, aber stets dem Leben, der Liebe zugewandten Geschichte erzählt Baldwins ganzes Werk; auch sein erster Roman Von dieser Welt (Go Tell It on the Mountain), der nun den Anfang einer Reihe von überfälligen Neuübersetzungen ins Deutsche bildet. Von dieser Welt ist ein in kräftigen Farben gemaltes, mit biblischen Vergleichen gespicktes Familienporträt, in das nicht nur die Kindheit des Autors in Harlem, New York, einfließt.

Wie jede große Literatur will es auch universell sein, und das heißt in diesem Fall: Teil einer afroamerikanischen Saga. Baldwins Alter Ego ist der 14-jährige John Grimes, der ähnlich wie der Held aus Barry Jenkins' Moonlight seinen Ort auf der Welt noch finden muss. Harlem übernimmt die Rolle des Platzanweisers, das Ghetto gewöhnt die Jugend schnell an das Leben unten auf der Straße, mit Trinkern, Prostituierten und Herumtreibern. Doch mehr Misstrauen als dem Milieu selbst schlägt Johns tyrannischem Stiefvater Gabriel entgegen, der sich als baptistischer Prediger verdingt – eine Figur, über die Baldwin sein ambivalentes Verhältnis zum eigenen Stiefvater ergründet.

Von dieser Welt ist einerseits Rückbesinnung auf die Elterngeneration, die sich im Zuge der "Great Migration" auf die Reise von den Südstaaten in die Metropolen des Nordens begab, um dort als Arbeiter ein neues Leben aufzubauen. Baldwin misstraut den gängigen Identitätskonzepten, von denen viele schon deshalb nicht greifen, weil sie die Menschen dazu zwingen, ihr Heil außerhalb ihrer eigenen Möglichkeiten zu suchen. Gabriel meint etwa, den rechten Weg gefunden zu haben, als er seine sündenhaften Jugendjahre gegen den Glauben getauscht hat. Doch Baldwin beschreibt ihn als einen Moralapostel, dessen Rechtschaffenheit zutiefst scheinheilig ist. Statt die Familie zu befreien, setzt er in seinem Fanatismus nur die sozialen Zuschreibungen der Weißen auf andere Weise fort.

Auch die religiöse Anmutung des Buches bleibt zutiefst ambivalent. Drei aufeinanderfolgende "Gebete", mehr Lebensbeichten eigentlich, sind zueinander in Beziehung gesetzt. Die Verschiebung der Perspektiven ermöglicht es, schuldhafte Verstrickungen genauso wie falsche Erlösungsfantasien kenntlich zu machen. Zugleich bleibt Baldwin jedoch stilistisch einem hohen Ton, ja Pathos verpflichtet, fast gospelartig mutet der Roman an. Wie John, der am Ende auf dem Fußboden der Kirche ein Erweckungserlebnis hat, muss auch Baldwin durch die Sprache hindurch, um am anderen Ende das Licht zu finden: Es ist dann aber schon ein abgewandeltes Licht, das sich mir der Realität verbunden hat.

Nicht dem Schicksal ergeben

Warum man das Vermächtnis der Vergangenheit weitertragen muss, davon schreibt Baldwin auch in einem seiner berühmtesten Texte, The Fire Next Time, dessen erster Teil in der Form eines Briefes an seinen 15-jährigen Neffen James verfasst ist. In zärtlich drängenden Worten beschreibt er die Kräfte, die einen jungen Schwarzen zu der Überzeugung kommen lassen, dass er sich seinem sozialen Schicksal ergeben muss. Nur jemand, der wisse, woher er kommt, schreibt Baldwin hier emphatisch, habe keine Beschränkungen mehr, nur der könne überallhin. Es ist einer dieser Texte, die man immer wieder lesen kann, licht und voller Demut.

Baldwin schreibt davon, dass man der Erwartung der Mehrheitsgesellschaft entsagen muss: deren Wunsch auf Integration. Der saloppe Tonfall jenes Satzes, der wie ein Ratschlag eines älteren Bruders klingt, lässt sich nur im Original wiedergeben: "The really terrible thing, old buddy, is that you must accept them." Es war der Ta-Nehisi Coates' weithin gefeierter Essay Zwischen mir und die Welt, der in den USA auch Baldwins Brief wieder in den Blick der Öffentlichkeit gerückt hat. Coates schließt mit seinem Buch direkt an The Fire Next Time an, indem er sich in Briefform an seinen 15-jährigen Sohn Samori richtet, der schon viel behüteter als Baldwins Neffe aufwachsen konnte. Doch ist es gerade diese Zuversicht einer anderen Zeit, die Samori umso schockierter auf die Polizeigewalt gegen Schwarze, in diesem Fall auf die Ermordung des Jugendlichen Michael Brown im Jahr 2014, reagieren lässt.

Ganz in der Tradition Baldwins steht der Appell, den Irrweg aufzugeben, "eine Negativkopie weißer Ansprüche auf die Zivilisation erstellen" zu wollen. "Baldwin verdankt seine Bekanntheit seinem Image ebenso sehr wie seinen Worten. Uns bleibt nicht nur die Schönheit seiner Worte, sondern auch die Macht seiner Präsenz", schreibt Coates in We Were Eight Years in Power. "Ich bin dagegen nicht immun – Baldwin, die Legende, war der Ahne, den Kenyatta anrief, als sie fragte: ,Was würde Baldwin tun?'"

Die Geste der Ehrerbietung gegenüber Baldwin unterschlägt jedoch, dass dieser sich selbst nicht immer so sicher war, er blieb ein Zweifler, ein Einsamer, selbst dann, als er ein anerkannter Schriftsteller war und in Frankreich lebte. Anders als die beiden schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. und Malcolm X war Baldwin keine Figur, auf die man sich zu Lebzeiten einigen wollte. Als Schriftsteller und Intellektueller geschätzt, blieb sein öffentliches Image nicht zuletzt aufgrund seiner Homosexualität das eines Außenseiters.

In No Name in the Street schreibt Baldwin über sein Zusammentreffen mit Eldridge Cleaver von den Black Panthers, wie ihm dieser das Gefühl vermittelte, er sei "auf gefährliche Weise eigenartig", "verdorben" und "spindeldürr", von zu viel Nutzen für das Establishment, als dass ihm Schwarze trauen würden. Das Misstrauen gab es auch auf der anderen Seite: Zwischen 1958 und 1974 ermittelte das FBI gegen Baldwin, am Ende umfasste das Dokument 2000 Seiten.

Malcolm X bezeichnete Baldwin einmal als einen der anständigsten Menschen, die er je kennenlernen durfte – trotz aller Differenzen, die sie ausgefochten haben.

Es spricht einiges dafür, dass gerade Baldwins Queerness, sein widersprüchlicher Geist und seine Fähigkeit, gegenüber den beiden Identifikationsfiguren Malcom X und Martin Luther King Jr. eine dritte Position einzunehmen, ihn für die Gegenwart von Black Lives Matter als Brennpunkt so geeignet erscheinen lassen. Doch Baldwins geistige Inspiration baut auf keinem repräsentativen Denken auf, das auf Verallgemeinerungen zielt. Er arbeitet vielmehr die Abstände zwischen sich scheinbar ausschließenden Positionen hervor, sucht Differenzierungen. Seine politischen Antworten beachten stets die Verhältnismäßigkeit zum jeweiligen Bedrohungsmoment, sei es durch Polizeigewalt oder die Kriminalisierung von Schwarzen. Aufgrund seiner Sensibilität für marginalisierte schwarze Gruppen, seien es Frauen, Homosexuelle oder Gefangene, eignet er sich als Vordenker für die breite Koalition von Black Lives Matter.

Zugleich war Baldwin souverän darin herauszuarbeiten, warum es dem weißen Amerika so unmöglich erscheint, auf das Feindbild des schwarzen Mannes zu verzichten. In einer der großartigen Stellen von No Name in the Street beklagt er eine emotionale Armut in Amerika, "den Terror des menschlichen Lebens, der menschlichen Berührung", die jede organische Verbindung zwischen öffentlichem Standpunkt und privatem Dasein verhindern würde. In den Übersteigerungen der Trump-Ära ist dieser Riss zwischen privatem und öffentlichem Selbstbild in aller Deutlichkeit hervorgetreten. Baldwin zieht eine Verbindung zwischen dieser Kluft von Erscheinung und Realität und der leidvollen Geschichte des Rassismus in seinem Land. "Man kann nichts geben, ohne sich selbst zu geben – das heißt, sein eigenes Selbst zu riskieren. Und am Ende kann man Freiheit nur gewähren, in dem man jemanden befreit. " (Dominik Kamalzadeh, 31.3.2018)