Die befürchtete Eskalation am Grenzzaun zwischen Israel und dem Gazastreifen ist eingetreten: Es war nicht nur ein Aufmarsch der friedlichen palästinensischen Massen – wobei sich die Organisatoren dessen bewusst sein mussten, dass es zu Gewalt und zu unerbittlicher Gegengewalt kommen würde. Der Zweck der "Aktion" war und ist, die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit zu erwecken, und es ist eine Sache der zynischen Abwägung, ob das mit Toten oder Fotos von friedlich kampierenden Massen leichter zu erreichen ist.

Die Hamas hat zumindest kurzfristig ihre Ziele erreicht: Ihre eigene Misere und die der von ihr kontrollierten Bevölkerung wächst, nachdem sich die Aussichten auf Normalisierung mit der Palästinenserbehörde im Westjordanland zerschlagen haben. Die Menschen brauchen ein Ventil – und die Erinnerung daran ist nützlich, wer laut Hamas am Zustand des Gazastreifens wirklich schuld sein soll, Israel. Vertane Chancen nach dem Abzug der Israelis 2005 kommen in dieser Selbsteinschätzung natürlich nicht vor. Das ist auch im Sinn des politisch ohnmächtigen und zunehmend erratisch agierenden Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, der wusste, was er tat, als er den Geldhahn der Palästinenserbehörde für den Gazastreifen weiter zudrehte.

Palästinenserfrage ist zurück

Aber es gibt auch eine andere Ebene, die PR nach außen. Der Hamas ist es nicht nur gelungen, mit einem Schlag den vergessenen Gazastreifen zurück auf die Landkarte zu setzen. Kurz bevor Israel sein 70-jähriges Gründungsjubiläum feiert, ist die Frage nach der Zukunft der Palästinenser zurück im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Die Flecken in der Erfolgsgeschichte, die – völlig zu Recht – gefeiert werden soll, zeichnen sich wieder deutlicher ab.

Für die Regierung von Benjamin Netanjahu, die mit hundert anderen selbstgemachten Problemen kämpft, ist das ein herber Schlag. Ihre große diplomatische Linie war, dass die Palästinenser für Israels bilaterale Beziehungen zu vielen Ländern völlig irrelevant sind. Die große neue Entwicklung der allerletzten Jahre war, dass das sogar für arabische Länder gelten kann: Eine enge Sicherheitszusammenarbeit findet längst nicht nur mit Ägypten und Jordanien statt, mit denen Israel immerhin einen Friedensvertrag hat, sondern auch mit arabischen Golfstaaten, gegen den Iran. Auch wenn sie der neuen Politikergeneration vertreten durch Mohammed bin Salman und Mohammed bin Zayed, Kronprinzen von Saudi-Arabien und von Abu Dhabi, noch so egal sind: Tote Palästinenser setzen dieser Annäherung Grenzen.

Neue Stufe in der langen Konfliktgeschichten

Zuletzt sollte man aber auch nicht so tun, als ob das Palästinenserproblem nur eine Konstruktion jener sei, die Israel sein Fest nicht vergönnen wollen. Die nunmehr ein Jahrhundert dauernde Konfliktgeschichte steht vor einer neuerlichen Schwelle. Mit Mahmud Abbas wird die PLO-Politikergeneration abtreten, die von Kampf bis zum Pragmatismus alles in sich vereint haben. Man weiß nicht, was danach kommt. Die Hamas ist längst durch noch radikalere Gruppen unter Druck.

Und nicht zuletzt: Im Weißen Haus sitzt ein Präsident, der noch immer an seinen "ultimate deal" im Nahen Osten glaubt, durchgedrückt kraft seines Amtes. Die Abschätzung von Konsequenzen kommt in seinem Denken nicht vor. Wie folgende: Auch wenn Israel mit den Palästinensern militärisch leicht fertig würde, wäre es eine Katastrophe auch für Israel, wenn es wieder dahin käme. (Gudrun Harrer, 1.4.2018)