Margeret MacMillan ist nicht nur eine vielfach preisgekrönte britisch-kanadische Historikerin. Sie ist auch Urenkelin des britischen Premierministers David Lloyd George.

Rob Judges
Die großen vier der Pariser Friedensverhandlungen von 1919, von links: der britische Premier David Lloyd George, der italienische Premier Vittorio Emanuele Orlando, der französische Premier Georges Clemenceau und US-Präsident Woodrow Wilson.
Foto: Edward N. Jackson (US Army Signal Corps) - U.S. Signal Corps photo

Wien – Vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg, und bei den Pariser Friedensverhandlungen wurden das Schicksal und die geopolitische Form von Europa ausgehandelt. Heraus kamen die Pariser Vororteverträge von Versailles, St. Germain, Trianon und Sèvres. Sie wurden von den Betroffenen als zutiefst ungerecht empfunden: Deutschland wollte sich nicht damit abfinden, dass es den Krieg verloren hatte, Österreich wurde der "Anschluss" an Deutschland verboten, und Ungarn verlor zwei Drittel seines Territoriums. Zugleich zerfielen drei Imperien – das russische, das österreichisch-ungarische und das osmanische – und hinterließen eine Reihe von nationalistischen Kleinstaaten.

Die renommierte britisch-kanadische Historikerin Margaret MacMillan, Urenkelin des früheren britischen Premiers David Lloyd George (siehe Foto oben), hat über die Pariser Friedensverhandlungen das vielfach ausgezeichnete Standardwerk "Peacemakers: The Paris Peace Conference of 1919 and Its Attempt to End War" (dt. Übersetzung 2015) verfasst und wird darüber am Donnerstag bei ihrem Eröffnungsvortrag des Österreichischen Zeitgeschichtetags sprechen.

STANDARD: Warum konnte die Friedenskonferenz von Paris keinen dauerhaften Frieden schaffen und den Nationalismus nicht unter Kontrolle bringen?

MacMillan: Vergleichen wir die Situation mit dem Wiener Kongress am Ende der Napoleonischen Kriege: Europa war damals bereit zum Frieden, und Frankreich mit seinem revolutionären Impuls war völlig besiegt. 1918 waren die Bedingungen nicht so günstig. Der Nationalismus war schwer zu kontrollieren, und mit dem Zusammenbruch der Imperien hatte man all diese verschiedenen unterdrückten Nationen, die für sich Territorien verlangten. Sie waren nicht leicht zu beschwichtigen, und am Ende bekämpften sie einander. Es gab auch die revolutionäre Kraft des Bolschewismus, der auf dem Vormarsch war. Es gab also 1918 eine große Zahl von Problemen und Chaos in vielen europäischen Ländern – bis hin zur Gefahr von Revolutionen.

STANDARD: War es also einfach zu schwierig, in die europäische Landschaft Ordnung zu bringen?

MacMillan: Es war schwierig, aber es gab doch auch etliche Erfolge. Ich glaube, wenn 1929 nicht die große Wirtschaftskrise gekommen wäre, dann hätte Europa Boden unter den Füßen bekommen können. Es gab einen gewissen Aufschwung in den 1920er-Jahren und Zeichen von Hoffnung. Der Völkerbund war zwar kein großer Erfolg, aber doch ein Fortschritt. Und die USA engagierten sich in konstruktiver Weise in Europa.

STANDARD: Was ging also schief?

MacMillan: Es gibt viele Gründe. In Deutschland etwa herrschte das Gefühl, dass man den Krieg nicht wirklich verloren hatte – oder dass Deutschland überhaupt nicht für den Krieg verantwortlich war. Warum sollte es daher die Lasten des Versailler Vertrags auf sich nehmen? Es gab viel Unzufriedenheit, und als die große Weltwirtschaftskrise kam, dachten die Leute, die eigene Regierung sei dem nicht gewachsen. Die Feinde der Weimarer Republik auf der linken wie auf der rechten Seite wurden dadurch ermutigt. Die Leute, die gegen die Demokratie waren, erhielten Auftrieb.

STANDARD: In rechten Kreisen gibt es immer noch das Argument, dass es die Lasten des Vertrags von Versailles gewesen seien, die Hitler erst möglich machten.

MacMillan: Man kann darüber streiten, wie hart diese Verträge waren. Sie waren jedenfalls nicht so hart wie zuvor die Verträge von Brest-Litowsk, die 1918 Sowjetrussland von Deutschland und Österreich aufgenötigt wurden. Jedenfalls kann man die Versailler Verträge nicht für Hitlers Krieg verantwortlich machen. Den hätte er so oder so angefangen.

Vortrag von Margaret MacMillan über jene sechs Monate in Paris 1919, die die Welt veränderten.
National World War I Museum and Memorial

STANDARD: Kommen wir zur Gegenwart. Wir blicken in Europa auf eine lange Friedensperiode zurück und haben eine Europäische Union. Wir haben gesehen, was Nationalismus angerichtet hat – und doch haben wir rechten Nationalismus im Aufwind. Was ist passiert?

MacMillan: Ich halte das zum Teil für eine Reaktion auf die Globalisierung. Es ist das Gefühl, dass die Eliten abgehoben sind und sich nicht um die kleinen Leute kümmern. Es aber auch eine kulturelle Frage: Wir in Kanada haben eine der höchsten Quoten an Immigranten. Wir sehen das als positiv, obwohl es auch Spannungen erzeugt. In Europa sehen viele die Frage der Identität – Sprache, Herkunft, Geschichte – als weit wichtiger an.

STANDARD: Kanada wählt seine Immigranten nach viel strikteren Kriterien aus. Deshalb gibt es hier das Argument, dass Kanada nur die Besten aussuche, während wir Analphabeten importieren.

MacMillan: Wir nehmen beide. Wir suchen uns qualifizierte Zuwanderer aus, nehmen aber auch Flüchtlinge. Wir haben eine ziemlich großzügige Flüchtlingspolitik und sind eine Immigrationsnation. Als man versuchte, das Kopftuch zu verbieten, gab es einen ziemlichen Aufschrei.

STANDARD: Wie lautet Ihre Prognose für Europa?

MacMillan: Die EU ist einem Angriff durch Russland ausgesetzt. Putin kann die EU nicht ausstehen, weil es ein Modell für das ist, was so viele Russen gerne hätten und Putin ihnen nicht geben kann. Putin weiß das und tut daher sein Bestes, um Schwierigkeiten zu machen. Der Gedanke, dass Russland ein Verbündeter sein könnte, wie manche glauben, ist einfach Unsinn. Die Ungarn und die Polen scheinen nicht zu begreifen, wie verwundbar sie sein würden, wenn es die EU nicht mehr gäbe. Dasselbe gilt möglicherweise für Österreich.

STANDARD: Diese Beschreibung erinnert an die Zeit nach den Pariser Verträgen.

MacMillan: Ich denke, die Politiker Europas sollten den Leuten besser erklären, warum die EU eine gute Sache ist. Viele, die heute eine Proteststimme abgeben, würden womöglich entsetzt sein über das, was man dann bekommt. Zum Beispiel ist die italienische Bewegung Cinque Stelle eine zutiefst undemokratische Partei. Wir – vor allem die Mittelklasse – haben die Warnsignale zu lange missachtet. (Hans Rauscher, 4.4.2018)