Irgendwo in Deutschland steht das verlassene Hotel Moss und beherbergt einen allerletzten Gast: Die wilde Natur ist eingezogen. In einem der leerstehenden Hotelzimmer wohnen jetzt Wiesenblumen, aus dem Sumpf über dem Spannteppich wächst ein junger Baum, und auf dem Doppelbett haben es sich Moospolster und eine Französische Bulldogge bequem gemacht.

Das düstere Bild mit dem süffisanten Unterton einer Prophezeiung sieht aus, als sei es schon nach der Apokalypse aufgenommen worden. Es erzählt von einer möglichen Zukunft, in der die Welt hervorragend ohne Menschen auskommt und Pflanzen wie Tiere die Einzigen sind, die in den Ruinen unserer Zivilisation hausen. Und doch: Irgendjemand muss als Zaungast anwesend sein, der diese postapokalyptischen Zustände im Beherbergungsgewerbe festhält. Dieser jemand heißt Henk Van Rensbergen.

Henk Van Rensbergen fotografiert verlassene Orte, um die er ein großes Geheimnis macht. Das Bild zeigt eine Karaokebar irgendwo in Asien.
Foto: Henk van Rensbergen

Der 1968 geborene Belgier ist das, was man heute wohl einen begeisterten Dark Tourist nennt. Einer, der nicht deshalb reist, um sich an einem beliebigen Strand die Sonne auf den Pelz brennen zu lassen, sondern ganz im Gegenteil das Düstere, vielleicht auch die Einsamkeit sucht.

Van Rensbergen ist passionierter Fotograf und Pilot bei einer großen Fluggesellschaft. Seine Zeit außerhalb des Cockpits verbringt er nicht am Pool, sondern widmet sie fast ausschließlich dem Besuch verlassener Orte. Seit 25 Jahren fotografiert er leerstehende Fabriken, aufgelassene Krankenhäuser, verwaiste Einkaufszentren – oder eben Unterkünfte, in denen nur noch der Verfall zu Hause ist.

Wie es der geheimnisvollen Aura seiner Reiseziele entspricht, macht auch der Fotograf selbst ein Geheimnis darum, wo genau und unter welchen Umständen die Aufnahmen entstanden sind: Mit dem Bildband "No Man's Land" lässt Van Rensbergen Gesprächspartner etwa im Unklaren, wie all die Tiere in seine Welt ohne Menschen kamen.

Ist die Bulldogge im Hotel Moss echt oder eine Retusche? Er verrät es nicht, ist aber auch unwichtig. Dark Tourism erfordert immer einiges an Vorstellungskraft und Interpretation, um die ganze Realität zu begreifen.

Ein wenig speziell

Was Dark Tourism bedeutet, ist nicht in einem Satz zu fassen. Noch vor ein paar Jahren war einer, der nach Tschernobyl reist, ein Katastrophentourist, einer, der Auschwitz besucht, hoffentlich ein Gedenkender und einer wie Van Rensbergen einfach nur ein wenig speziell.

1996 verwendeten die britischen Autoren John Lennon und Malcolm Foley erstmals den Begriff Dark Tourism in ihrem gleichnamigen Buch. Sie versuchen darin, Motive für Reisen zu skizzieren, die zu Orten des Todes oder der Trauer führen. Gut zehn Jahre später musste Philip Stone, Chef des Instituts für düstere Tourismusforschung (ja, das gibt es tatsächlich an der britischen Uni Central Lancashire), die Bedeutung bereits ausweiten. Immer mehr Menschen delektierten sich offensichtlich an morbiden Reisezielen wie verlassenen Rummelplätzen oder vergessenen Kriegsschauplätzen.

Ein verlassener Freizeitpark in Tschernobyl
Foto: Getty Images//iStockphoto/tunart

Danach schuf Stone eine Art siebenteilige Skala der Sensationslust: Ganz unten auf der Bucket List des schwarzen Tourismus stehen wenig sensationelle, "düstere Spaßfabriken" wie ein rostiges Karussell, ganz oben die "düsteren Orte des Völkermords" wie die "Killing Fields" in Kambodscha.

So eine Baedeker'sche Bewertung für Sehenswürdigkeiten – zwei Sterne: "Das müssen Sie sehen" oder ein Stern: "Sollte man sehen, wenn möglich" – mag im Fall von Schauplätzen traumatischer Ereignisse befremdlich wirken. Es ist auch befremdlich, doch Touristen wie die 50.000, die zuletzt in einem Jahr nach Tschernobyl kamen, brauchen Orientierungshilfen im Dschungel der Antiparadiese.

Dark Tourism findet nur zu einem sehr kleinen Teil über organisierte Reisen statt, verlässliche "Gästezahlen" sind schwer zu erheben, wenn es sich nicht um offizielle Gedenkstätten handelt. Es drängt sich also die Frage auf: Wer sind diese Touristen, die solche Orte nicht wie der belgische Pilot aus ästhetischem oder wie die drei Briten aus wissenschaftlichem Interesse besuchen?

Symbolische Begegnung

Der Tourismustheoretiker John Lennon, Co-Autor von "Dark Tourism" und mittlerweile Dozent für düsteren Tourismus, erklärt seinen Studenten: "Viele dieser Reisen sind vom Wunsch nach symbolischen Begegnungen mit dem Tod motiviert." Schwarzer Tourismus sei aber keineswegs ein neues Phänomen.

Schon die Gladiatorenspiele im alten Rom stillten vergleichbare Bedürfnisse, und die Konfrontation mit der bitteren Realität geschieht seit Jahrzehnten beim Slum-Tourismus in Brasilien oder Südafrika. Haben wir es also vorwiegend mit Voyeuren zu tun? Das sei nur in Ausnahmefällen zutreffend, meint der Tourismussoziologe Wolfgang Aschauer.

Wen interessieren eigentlich verwaiste Einkaufszentren? Unter anderem Menschen, die ein "Betreten verboten"-Schild magisch anzieht.
Foto: Henk van Rensbergen

Aschauer, der sich immer wieder mit den britischen Experten für Reisen ins Düstere austauscht, sagt: "Heute sind so gut wie alle touristischen Nischen besetzt. Und so gut wie alles im Tourismus wirkt inszeniert. Da darf es nicht verwundern, wenn sich Menschen auf die Suche nach authentischen Erlebnissen begeben."

Dabei ist der Wunsch nach Authentizität unter vielen Dark-Tourism-Anhängern tatsächlich kein Vorwand für Voyeurismus. Menschen, die erhebliche Kosten und Mühen für Reiseziele wie das Informationszentrum für Genozid in Ruanda in Kauf nehmen, sind in der Regel historisch gebildet und gut informiert über die Länder, in die sie reisen. Oder zumindest wünscht man ihnen das, wenn man die kostspieligen Reiseprogramme jener Veranstalter studiert, die sich ganz dem dunklen Tourismus verschrieben haben.

Das 1993 in Peking von den Briten Nick Bonner und Simon Cockerell gegründete Reisebüro Koryo Tours begann zunächst mit Individualreisen nach Nordkorea. Heute verkauft das Unternehmen um 6.000 Euro pro Person aufwendige Ausflüge in den sowjetischen Gulag. Auf der Abandoned Russia Tour werden unter anderem ehemalige Straf- und Arbeitslager besucht, eine aufgelassene Diamantenmine in Sibirien und der Kältepol Jakutiens – Orte also, die deshalb interessieren, weil sie Menschenleben kosteten. Ist das nicht unmoralisch?

Kritische Auseinandersetzung

"Immer gleich die Moralkeule zu schwingen ist nicht angebracht", sagt Aschauer, der den Tourismus auf den bayerischen Obersalzberg genauer studierte. Das von Adolf Hitler als Sommersitz genutzte Gelände und das Dokumentationszentrum in Berchtesgaden werde heute vorwiegend von Menschen besucht, die sich kritisch mit der Geschichte auseinandersetzen. Nur ein kleinerer Teil würde den historischen Background völlig negieren, und ein "Wallfahrtsort" sei der Obersalzberg zum Glück für die wenigsten.

Ein Sammel-Luftschutzraum der Bunkeranlage am Obersalzberg bei Berchtesgaden – heute Teil des Dokumentationszentrums Obersalzberg.
Foto: APA/dpa/Matthias Balk

Egal ob es sich um den Besuch einer Hotelruine, eines abgesperrten stalinistischen Bauwerks oder um Ruinen aus der NS-Zeit handelt – auch der Reiz des Verbotenen spielt in vielen Fällen eine Rolle. Der Tourismussoziologe Aschauer ortet eine starke Anziehungskraft der Illegalität, aber auch Chancen, wenn die Touren zu solchen Orten in die Legalität überführt werden: "Alternative, düstere Reiseziele verlieren nicht zwangsläufig an Wirkung, wenn sie vermarktet werden. Die sensible Aufbereitung von Touren zu Gedenkstätten ist aber unabdingbar."

Wie erkenntnisreich der Besuch historischer Orte bleiben kann, wenn man sich an die Spielregeln hält, veranschaulicht auch der vermutlich umfangreichste Reiseführer für düstere Tourismusziele. Der in Wien lebende Hamburger Linguist Peter Hohenhaus hat in jahrelanger Kleinarbeit die Seite www.dark-tourism.com aufgebaut. Seine Liste der alternativen Sehenswürdigkeiten wird nach intensiven Recherchen laufend ergänzt und mit einem genreüblichen Darkometer-Rating versehen.

Immer wieder weist Hohenhaus aber ausdrücklich darauf hin, dass er vom Besuch lebensgefährlicher, weil einsturzgefährdeter Gebäude abrät. Sich selbst zu gefährden oder Gesetze zu übertreten ist auch gar nicht nötig bei den über 800 Dark-Tourism-Zielen in 108 Ländern, für die Hohenhaus legale Besichtigungsmöglichkeiten angibt.

Wien siedelt der Hamburger auf der Skala der düsteren Städte ziemlich weit oben an – nicht nur wegen der vielen problemlos erkundbaren Orte wie der pathologischen Sammlung der Universität oder den unterirdischen Gängen und Katakomben. Für den schwarzen Tourismus sei die Stadt auch deshalb prädestiniert, weil ihre Bewohner ein sehr spezielles Verhältnis zum Tod hätten.

Auf eigene Gefahr

Was rund um Wien alles an düsteren Reisezielen schlummert, haben zuletzt der Höhlenforscher Robert Bouchal und der Historiker Johannes Sachslehner dokumentiert. In ihrem vor wenigen Tagen erschienenen Buch "Streng geheim! Lost Places rund um Wien" prangt bereits auf den ersten Seiten das Foto eines rostigen Warnschilds mit dem Hinweis: "Die Besichtigung der vorgestellten Areale erfolgt auf eigene Gefahr. Die Autoren und der Verlag übernehmen keine Verantwortung für eventuell resultierende Folgen."

"Reisen zu düsteren Orten sind vom Wunsch nach symbolischen Begegnungen mit dem Tod motiviert." John Lennon, Tourismustheoretiker
Foto: Henk van Rensbergen

Die beiden zählen in Österreich nicht nur zu den Dark-Tourism-Anhängern der frühesten Stunde, sondern auch zu den informiertesten. Bei aller historischen Objektivität und Distanziertheit zu den besuchten Orten schwingt in ihren Beschreibungen immer auch ein Unterton der Freude am Entdecken mit. Wenn sie etwa schildern, wie sie in Begleitung des Küchenmeisters und des Oberförsters von Stift Heiligenkreuz auf einen völlig zugewachsenen Tunnelabschnitt der westlich von Wien nie fertiggestellten Reichsautobahn der Nazis stießen.

Dabei vergessen sie nicht, auf die Bedingungen hinzuweisen, unter denen manche der Bauwerke entstanden sind: Die "Reichsautobahnlager" in unmittelbarer Nähe des entdeckten Tunnels wurden durch Sklavenarbeit und Typhusepidemien schon in den ersten Kriegsjahren zu Orten des Todes.

Und die Kritik an der Reiselust zu Orten des Schreckens? Gibt es fast so lange wie die Sache selbst. 1921 empörte sich Karl Kraus in der "Fackel" über Menschen, die an Schlachtfeldrundfahrten nach Verdun teilnehmen. Er nannte diese Reisen "Reklamefahrten zur Hölle" und moralisierte gegenüber den Teilnehmern: "Wer nicht erkennt, dass er bereits durch Geburt in eine Mördergrube geraten ist, den möge der Teufel holen!" (Sascha Aumüller, RONDO, 5.4.2018)

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