Wien – Dass der Klimawandel Gebirgspflanzen allmählich in höhere Lagen wandern lässt, ist nicht neu. Aktuelle Untersuchungen zeigen jedoch, dass sich diese Entwicklung zunehmend beschleunigt. Durch die Klimaerwärmung erreichen fünfmal so viele Arten tieferer Lagen die Gipfel als vor 50 Jahren, berichten Ökologen nun im Fachjournal "Nature". Als Paradebeispiel gilt der 3.424 Meter hohe Hintere Spiegelkogel in Tirol: 1953 wurden dort 15 Arten gefunden, heute sind es bereits 37.

In der aktuellen Studie von Wissenschaftern aus elf Ländern, darunter Forscher der Akademie der Wissenschaften (ÖAW), der Universität für Bodenkultur (Boku) sowie der Universitäten Wien und Innsbruck, zeigte sich erstmals eine europaweite Beschleunigung dieser Dynamik: In allen neun untersuchten europäischen Regionen (auf Spitzbergen, in Skandinavien, Schottland, der Hohen Tatra, den Karpaten, den Alpen und den Pyrenäen) kommt es zu einer immer stärkeren Zunahme der Artenzahlen.

Spiegelkogel als beispielhafter Berg

Während im Zeitraum 1957 bis 1966 im Schnitt nur eine neue Art pro Gipfel beobachtet wurde, waren es zwischen 2007 und 2016 mehr als fünf Arten. Harald Pauli vom Institut für interdisziplinäre Gebirgsforschung der ÖAW nannte den Hinteren Spiegelkogel in den Ötztaler Alpen als "Paradeberg" für diese Studie, der am besten die Situation quer durch Europa widerspiegle: "1953 hatten zwei Kollegen aus Innsbruck dort 15 Arten gefunden, 1992 habe ich selbst dort 19 Arten gezählt und jetzt waren es 37."

Als konkretes Beispiel einer neuen Gipfel-Art nannte Pauli die Klebrige Primel: Diese sei bis zu Höhen von 3.000 bis 3.200 Metern häufig, auf dem Spiegelkogel bis vor kurzem aber nicht vorgekommen. Die Rate der Neubesiedlung verlief parallel zum Temperaturanstieg der vergangenen Jahrzehnte, was "auf die menschgemachte Klimaerwärmung als treibenden Faktor hinweist", so Manuela Winkler vom Department für Integrative Biologie und Biodiversitätsforschung der Boku. Bestätigt werde das durch den überdurchschnittlichen Anteil wärmeliebender Arten unter den Neuankömmlingen.

Hochlagenarten werden weniger

Ob es dadurch zu einem Verdrängungswettbewerb kommt und Arten verschwinden, sei nicht im Fokus der aktuellen Studie gestanden, sagte Pauli. "Wir sehen aber auf den höchsten Gipfeln, dass die extremen Hochlagenarten, die sehr kälteangepasst sind, zurückgehen." Auch Stefan Dullinger vom Department für Botanik und Biodiversitätsforschung der Universität Wien bezeichnete die Zunahme der Artenzahl als "Übergangsphase, die letztendlich zum Verschwinden vieler genuin alpiner Arten von den Berggipfeln führen dürfte".

In ihrer Studie haben die Wissenschafter historische Pflanzenlisten alpiner Gipfel ab dem 19. Jahrhundert verwendet und mit aktuellen Erhebungen verglichen. Dazu kamen Daten des im Jahr 2000 initiierten weltweiten Monitoring-Programms GLORIA (Global Observation Research Initiative in Alpine Environments), das in Österreich von der Boku und der ÖAW koordiniert wird. (APA, red, 5.4.2018)