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Bronzener Dichter in Moskau: Fjodor Dostojewski.

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Wien – Über ihren Nationalautor Fjodor Michailowitsch Dostojewski stolpern die Moskauer Metrofahrer unentwegt. Seit 2010 nennt sich eine Metrostation im ruhigeren Stadtteil Marina Roschtscha (Marienhain) "Dostojewskaja". In kostbarem Marmor findet man hier Schlüsselszenen aus den Meisterromanen des Metaphysikers wiedergegeben. So erkennt man den Empörer Rodion Raskolnikow, wie er die Axt auf die Pfandleiherin niederschmettert (Schuld und Sühne). Eine Begebenheit, die jeder nur halbwegs belesene Russe natürlich aus dem Effeff kennt.

Bereits seit 1997 sieht man vor dem Gebäudekomplex der Russischen Staatsbibliothek die Bronzeskulptur einer äußerst nachdenklichen Gestalt. Das Werk des Bildhauers Alexander Rukawischnikow zeigt Dostojewski (1821-1881) in der wenig heroischen Pose des Schmerzensmannes. Die äußerst pragmatisch denkenden Studenten in Moskau haben dem Denkmal den spöttischen Titel "Sprechstunde beim Proktologen" verpasst.

Autor von unverminderter Brisanz

Als nationalrussischer Moralist und überzeugter "Antiwestler" bleibt Dostojewski in Putin-Russland auch weiterhin ein Autor von unverminderter Brisanz. Klar wie lange nichts belegt die neue Dostojewski-Biografie des Baseler Slawisten Andreas Guski die Gedankenfiguren von spiritueller Konversion und slawophiler Selbstbesinnung.

In Guskis Buch wird noch einmal der Werdegang Fjodor Dostojewskis als der eines jungen Liberalen nachgezeichnet. Dieser – zuerst eine mittlere literarische Begabung – wird zusammen mit anderen Reformwilligen von den Häschern des Zaren verhaftet, in Sankt Petersburger Festungshaft gesteckt und schließlich 1849, in einem abstoßenden Schauspiel, zur Scheinhinrichtung geführt. Die Umwandlung der Todesstrafe in sibirische Lagerhaft (und anschließendes Exil) bedeutet für Dostojewski ein unverhofftes Gnadengeschenk. Fernab von jedem Zynismus begreift der Romancier die mystische Erfahrung des Entrinnens als Aufgabe, dem Urheber des Gnadenerweises – Jesus Christus – nur umso näher zu kommen. Die Begnadigung in letzter Sekunde stellt mehr dar als die gütig erteilte Lizenz zum Weiterleben. Sie nimmt, als Auferstehung, das ewige Leben vorweg.

Auserwähltheit der russischen Seele

Fortab wurde Dostojewski nicht müde, als streitbarer Publizist der "russischen Mission" nachzusinnen. Die Auserwähltheit der russischen Seele liegt laut Dostojewski in ihrer besonderen Befähigung, sich der Wahrheit zu öffnen. Jeder Import von "westlichem" Aufklärungsgut verfehlt daher mit absoluter Gesetzmäßigkeit das Ingenium, das Russland auszeichnet: Intelligenz und "Volk", Ratio und Seele miteinander zu versöhnen. Nur wer die Trennung von Kopf und Körper aufhebt, wird auch der Entfremdung der Intelligenzija vom einfachen Volk Einhalt gebieten. Russlands Muttererde ("pótschwa") soll den natürlichen Nährboden für eine solche neu zu stiftende Allianz bilden.

Interessanterweise erregen vor allem solche Dostojewski-Romanfiguren die Aufmerksamkeit des Lesers, in denen der Wurm des Unglaubens besonders schmerzlich nagt: der genannte Raskolnikow, Stawrogin (Die Dämonen), Iwan Karamasow. Die häufiger anzutreffende Selbstdefinition der Russen als "Gottesträgervolk" soll ihre Duldsamkeit erklären (helfen) und ihre Leidensfähigkeit glorifizieren.

Dostojewskis Rolle als Künder eines Erlöserlandes passt gut in ein Reich, in dem die Sonne des aktuellen Präsidenten nie untergeht. Nicht umsonst zeigt sich die Kreml-Elite gern bei hohen orthodoxen Festen. Nachdem Wladimir Putin 1996 seine Töchter aus der brennenden Familiendatscha gerettet hatte, fand man in den Ruinen das unversehrte Kreuz seiner gläubigen Mutter. Seither trägt der Präsident das Kleinod gern auf der entblößten Brust. (Ronald Pohl, 4.4.2018)