Wer kann sich das in der westlichen, von industriell gefertigtem Essen bestimmten Welt noch vorstellen? Ein Leben, in dem es nicht an jeder Ecke, in dem es nicht einmal täglich etwas zum Essen gibt. Das war zum Beispiel bei den Frühmenschen so. Sie aßen, was da war, manchmal noch während der Jagd, speicherten die Energie im Körper und konnten an weniger erfolgreichen Tagen von diesen Reserven zehren. In den mageren Zeiten stellten sie ihre Körper außerdem auf Sparprogramm um, reduzierten den Kalorienverbrauch, weil sie nichts zuführen konnten.

Ein zähes Unterfangen. Ihr Überleben sicherten sich unsere Vorfahren jedenfalls erst, indem sie vor etwa 1,9 Millionen Jahren das Kochen erfanden. Evolutionsbiologen der Harvard University haben diese Entwicklung 2011 in einer Arbeit für das Fachmagazin PNAS beschrieben. Die höherwertige, kalorienreichere Kost erhöhte die Reproduktionsfähigkeit, allein mit Rohkost wäre das nicht möglich gewesen, schrieben die Forscher.

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Alkohol hat einen hohen Brennwert und fördert das Bauchfett.
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Das Kochen erspart außerdem viel Zeit, es kann als Vorverdauung betrachtet werden und macht uns als kochende Primaten das Leben leichter: Wir wenden laut den Studien nicht einmal fünf Prozent unserer Lebenszeit im Wachzustand für das Essen auf. Würden wir nicht kochen, dann müssten wir fast 50 Prozent unseres Tages mit Kauen zubringen. Kaum vorstellbar in einer Arbeitswelt, in der es um größtmögliche Produktivität geht.

Kein Vorteil ohne Nachteile: Schon Benjamin Franklin, Wissenschafter und einer der Gründerväter der USA, soll gesagt haben: "Seit Erfindung der Kochkunst essen die Menschen doppelt so viel, wie die Natur verlangt." Da Essen im Laufe der Industrialisierung immer einfacher zubereitet werden konnte, wurde es auch zugänglicher. Heutzutage sind wir einer verführerischen Mischung an Düften ausgesetzt. Pizzastände, Würstelbuden, Kebabanbieter – alles riecht für den Hungrigen nach der sehnsüchtig erwarteten Sättigung. "Wer Hunger hat, braucht da viel Willenskraft, um einfach nur vorbeizugehen", sagt Endokrinologe Christian Schelkshorn.

Ungesunder Fettpolster

Da der Mensch aber gleichzeitig viel zu wenig Sport betreibt, weil er im Lauf der Jahrtausende mit zunehmender Zivilisation und Technologisierung bequem geworden ist, wird er übergewichtig: Die notwendigen Speicher der frühen Menschheitsgeschichte werden zu Fettpölstern rund um die Hüften, die sind nicht nur unansehnlich, sondern führen auch zu sozialen Problemen und sind in höchstem Maße gesundheitsgefährdend: Laut Weltgesundheitsorganisation WHO sterben jährlich etwa 2,8 Millionen Menschen an den Folgen von Übergewicht, das können Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Typ-2-Diabetes sein. Auch die Entstehung von Krebs wird mit Fettleibigkeit in Verbindung gebracht.

Mit einem Body-Mass-Index (BMI) ab 25 gilt man als übergewichtig, ab 30 als fettleibig (adipös). Die Zuwachsraten sind dramatisch. Aktuelle Zahlen besagen, dass 15,6 Prozent der Männer und 13,2 Prozent der Frauen in Österreich zu der Gruppe der Fettleibigen zählen. In Deutschland werden insgesamt sogar 25 Prozent dazugerechnet. Studien über die Problematik bei Kindern und Jugendliche kamen zuletzt zu recht unterschiedlichen Ergebnissen. Während die einen davon ausgingen, dass die Spitzen erreicht sind, der Zuwachs also verflacht und ein Rückgang möglich scheint, haben Wissenschafter des Duke University Medical Center in Durham im US-Bundesstaat North Carolina herausgefunden, dass 2016 insgesamt 35 Prozent der Kinder und Jugendlichen übergewichtig waren. Das waren fast fünf Prozent mehr als zwei Jahre davor.

Das Problem ist regional zwar unterschiedlich ausgeprägt, es ist aber weltweit vorhanden: Im November 2017 wurde in Wien eine Studie nach den Kriterien der Childhood Obesity Surveillance Initiative (Cosi) der WHO Europa präsentiert. Die Ergebnisse waren laut Expertenmeinungen ernüchternd. Demnach sind etwa 30 Prozent der Buben in der dritten Klasse übergewichtig oder sogar adipös. Bei den Mädchen ist die Rate geringer und variiert von 21 Prozent im Westen Österreichs bis zu 29 Prozent im Osten. Aus übergewichtigen Kindern werden, wenn nicht gegengesteuert wird, übergewichtige junge Erwachsene.

Hohes Krebs-Risiko

Fälle von Typ-2-Diabetes, dessen Entstehung durch ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel unterstützt wird, treten in jungen Jahren genauso auf wie Krebserkrankungen, von denen bisher vor allem über 50-Jährige betroffen waren. Bereits 2002 hat die Internationale Krebsforschungsagentur (IARC) festgehalten, dass fünf Krebsarten durch hohen Körperfettanteil begünstigt werden, in einer aktualisierten Fassung der Studie von 2016 waren es bereits 13. Einige Ergebnisse der IARC deuteten darauf hin, dass Gewichtsreduktion das Risiko senkt, eindeutig war die Expertenmeinung in diesem Fall nicht.

Wissenschafter sagen: Wer einmal fettleibig war, hat lebenslang ein höheres Krebsrisiko.
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Ein aktuelles Paper der Case Western Reserve University School of Medicine, veröffentlicht im Fachjournal Obesity, kommt zu dem Ergebnis, dass Fettleibigkeit die Wahrscheinlichkeit eines jungen Menschen, an Krebs zu erkranken, dauerhaft erhöht. Auch nach dem Abnehmen bleibe das Krebsrisiko bestehen. Studienautor Nathan A. Berger wird in einer Aussendung mit einer düsteren Feststellung zitiert: "Wer übergewichtig ist, hat ein höheres Krebsrisiko. Wenn Sie abnehmen, verbessert das die Prognose und kann Ihr Risiko senken, es verschwindet aber nie völlig." Adipositas würde Veränderungen der DNA verursachen, die sich im Laufe der Zeit summierten.

Ampel-System für Essen

Überernährung wird also als großes Gesundheitsrisiko erkannt, größer als Hunger. Die betroffenen Menschen tun sich aber sehr schwer, ihren Lebensstil zu ändern, was laut Experten mehrere Gründe hat: Gesundes Essen kostet Geld, mehr als ein kalorienreicher Speiseplan. Ökonomen der Uni Hamburg schlagen deshalb ein gestaffeltes Ampel-System für die Besteuerung von Nahrungsmitteln vor. Grün markiert wären demnach gesunde Produkte wie Gemüse, rot dagegen zucker-, fett- und salzreiche Industrienahrung. In einigen Staaten wurden derartige Steuern schon eingeführt, der Absatz von zuckerhältigen Softdrinks ging laut Untersuchungen in Berkeley im US-Bundesstaat Kalifornien stark zurück.

Eine nicht so gern diskutierte Ursache für Übergewicht und Fettleibigkeit liegt im Bildungsniveau: Eine der vielen Studien, die das nachweisen, stammt von der Organisation für Entwicklungszusammenarbeit OECD aus dem Jahr 2013. Während damals nur zehn Prozent der Akademiker in Österreich extrem übergewichtig waren, betrug der Prozentsatz bei Menschen ohne Matura oder Lehre 20 Prozent. Schelkshorn kritisiert deshalb das Schulsystem: "Eigentlich müsste man ab dem Kindergarten Ernährungsfragen besprechen, was zumindest in Österreich nicht passiert." In Finnland habe er das dagegen schon beobachten können. Die Folge sei aus seiner Sicht logisch: Viel weniger Kinder haben dort Gewichtsprobleme.

Gerit Schernthaner, Internist am AKH Wien, warnt aber vor Stigmatisierungen. Übergewichtige Menschen hätten, wenn sie sich bewegen, womöglich eine höhere Lebenserwartung als dünne, die nichts tun.

Genetische Ursachen

Zu viel Gewicht auf der Waage kann allerdings auch genetische Gründe haben. Diesbezügliche Erkenntnisse reichen auf frühere Arbeiten des Biochemikers Douglas Coleman aus den 1960er-Jahren zurück. Im Mausmodell zeigte er, dass es eine erbliche Vorbelastung für Fettleibigkeit geben kann. Das Hormon Leptin wird normalerweise nach der Mahlzeit ausgeschüttet, es sorgt für das Gefühl, satt zu sein.

Bei gesunden Menschen findet bei der Nahrungsaufnahme eine hormonelle Interaktion statt, die Grenzen setzt. Haben wir Hunger und bekommen Nahrung, setzt das Belohnungssystem im Gehirn Endorphine, also Glückshormone, frei. Magen und Darm produzieren aber mit fortschreitender Dauer des Essens appetitzügelnde Hormone, welche die Glücksgefühle hemmen und den Sättigungsgrad erhöhen. Der Genuss wird nicht mehr so stark wie zu Beginn der Mahlzeit empfunden. Industrienahrungsmittel, meist stark fett- und zuckerhältig, können das Belohnungssystem von sozial und psychisch belasteten Menschen allerdings so anregen, dass ihnen das Aufhören schwerfällt. Das Glücksgefühl wird dauerhaft gesucht. Wird es aber zu oft und zu intensiv befriedigt, stumpft der Mensch ab – und kann auch bei größeren Mengen keine Zufriedenheit mehr empfinden. Er verlangt nach noch mehr.

Die Abhängigkeit wird bei allen Suchtkranken – auch bei Menschen mit Fettsucht – durch Dopamin gesteuert. Es treibt die Betroffenen an, macht ihnen Druck, mit den für sie ungesunden Gewohnheiten weiterzumachen. Die Salzburger Psychologin Elisabeth Ardelt-Gattinger hat schon mehrfach auf das Problem hingewiesen und bemerkte die Schwierigkeiten bei der Heilung. Patienten mit Fettsucht könnten nie "trocken" oder "clean" sein wie Alkohol- oder Drogenkranke, denn essen muss jeder. Schernthaner warnt aber auch hier vor Schubladisierungen. Fettleibigkeit müsse kein Ergebnis von Sucht sein. Wer regelmäßig zu viel isst, nimmt schon mehrere Kilo im Jahr zu, muss aber dabei noch nicht suchtkrank sein. Adipositas sei ein vielschichtiges Problem mit keinen simplen Lösungen. (Peter Illetschko, 2.7.2018)