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Die Wikinger gelangten vor mehr als tausend Jahren sogar bis nach Neufundland. Um Nordamerika auch bei Schlechtwetter erreichen zu können, dürften sie nach den sogenannten Sonnensteinen navigiert haben.

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2011 fanden Wissenschafter in Wrack der Alderney, einem britischen Schiff, das 1592 im Ärmelkanal gesunken war, diesen doppelbrechenden Kalzit. Der Fund untermauert, dass derartige Kristalle in der Seefahrt zur Navigation benutzt worden sind – sogar lange nach der Einführung des Magnetkompasses.

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Budapest/Wien – Lange bevor der magnetische Kompass seinen Weg von China nach Europa gefunden hat, haben die Wikinger den Nordatlantik befahren und dabei Island und ab dem Ende des zehnten Jahrhunderts auch Grönland und Neufundland besiedelt. Das belegen mittlerweile zahlreiche archäologische Funde. Wie es den Nordmännern und -frauen allerdings gelang, auf den unberechenbaren arktischen Gewässern regelmäßig zwischen Europa und Nordamerika zielsicher ihre fernen Bestimmungsorte zu erreichen, ist bis heute nicht vollständig geklärt.

Nach der Sonne navigieren

Fakt ist, dass die Wikinger vor allem nach der Sonne navigierten und dafür einen sogenannten Sonnenkompass verwendeten, ein der Sonnenuhr ähnliches Instrument, bestehend aus einer Holzscheibe, in deren Mitte ein kurzer Stab montiert war. Nachtsüber dürften die Sterne zur Orientierung gedient haben. Woran orientierten sich die Wikinger aber, wenn Nebel über der See lag oder dichte Wolken die Sonne verhüllten? Immerhin ist anzunehmen, dass derartige Wetterunbilden im hohen Norden eher die Regel als die Ausnahme darstellen.

In einigen skandinavischen Legenden, darunter auch die "Saga von König Olaf", werden für solche Fälle mysteriöse "Sonnensteine" erwähnt, die den Seefahrern auch dann den Weg in den Westen gewiesen haben sollen, wenn sich die Sonne wochenlang nicht blicken ließ. Obwohl es bis heute keinen archäologischen Beweis für den Einsatz derartiger Kristalle in der Wikingerseefahrt gibt, ließen in den vergangenen Jahren mehrere Untersuchungen deren Verwendung als Navigationshilfe durchaus plausibel erscheinen. Erhärtet wird diese Vermutung durch einen Stein, den Wissenschafter 2011 bei Navigationsinstrumenten im Wrack des britischen Segelschiffs Alderney aus dem 16. Jahrhundert entdeckten.

Polarisiertes Licht

Experimente mit diesem doppelbrechenden Kalzit, auch bekannt als Doppel- oder Islandspat, zeigten, dass sich damit bei bedecktem Himmel aufgrund des polarisierten Tageslichts die Position der Sonne sehr exakt bestimmen lässt. Der Kristall muss dafür in die Höhe gehalten und langsam gedreht werden. Ergibt das von den Wolken polarisierte Licht zwei gleich helle Strahlenbündel, blickt man in Richtung der Sonne. Ähnlich gute Resultate lieferten bei den Versuchen auch die Minerale Cordierit und Turmalin.

So weit die Belege, dass der "sólarsteinn" grundsätzlich funktioniert, so wie es in den alten Geschichten beschrieben wurde. Konnte man mittels der polarimetrischen Navigation auf Basis der Sonnensteine aber auch tatsächlich tausende Kilometer entfernte Ziele finden? Durchaus, wie nun die beiden Physiker Dénes Száz und Gábor Horváth von der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest herausgefunden haben. Mehr noch: Anhand von Experimenten und umfangreichen Computermodellen gelang den Wissenschaftern der Nachweis, dass diese Form der Navigation sogar äußerst präzis gewesen sein könnte.

Virtuelle Überfahrten

Száz und Horváth, die sich bereits seit Jahren mit dem Sonnenstein auseinandersetzten, führten insgesamt mehr als 36.000 Simulationen durch, bei denen sie unterschiedliche Wikingerschiffstypen bei zwölf verschiedenen Wetterszenarien virtuell auf die Reise von Norwegen nach Südgrönland schickten. Sie gingen davon aus, dass die Nordmänner vor mehr als 1000 Jahren etwa auf der Höhe des 60. Breitengrades und mehr oder weniger parallel dazu nach Westen gesegelt sind und für die Überfahrt bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von elf Kilometern pro Stunde rund drei Wochen benötigt haben.

Als Abfahrtsdaten wählten sie die Frühlingstagundnachtgleiche, da diese vermutlich den Beginn der Seefahrtsaison markierte, sowie die Sommersonnenwende, den längsten Tag des Jahres. Unter Berücksichtigung früherer Experimente lieferten die Simulationen erstaunlich genaue Navigationsresultate: Wie die Forscher im Fachjournal "Royal Society Open Science", berichten, hätte ein Wikingerschiff, das per Sonnenstein navigiert worden wäre, selbst bei dichter Bewölkung in 92 bis 100 Prozent aller Fälle Südgrönland erreicht – vorausgesetzt der Navigator hätte die Sonnenposition tagsüber alle drei Stunden bestimmt. Bei einem Zeitabstand von jeweils vier Stunden wären die Schiffe schnell vom Kurs abgekommen, und die Zielgenauigkeit wäre auf 32 bis 59 Prozent gesunken.

Nächtliche Navigation

Möglicherweise nutzten die Wikinger Sonnensteine sogar nach Sonnenuntergang zur Navigation: Versuche mit zwei Sonnensteinen in Kombination eines Sonnenkompasses, den die Forscher auf Basis von fragmentarischen Funden aus dem 11. Jahrhundert rekonstruierten, ergaben, dass sich während des Sommers auch im Zwielicht der nordischen Nacht die Position der Sonne bei bedecktem Nachthimmel ermitteln ließ. Ob die Wikinger diese Methode tatsächlich auch angewendet haben, ist damit freilich nicht bewiesen.

"Immerhin zeigen unsere Ergebnisse deutlich, dass die polarimetrische Navigation mithilfe von Kalzit, Cordierit oder Turmalin auch bei einem stark bedeckten Himmel überraschend erfolgreich gewesen sein könnte, wenn man den Kurs regelmäßig kontrolliert hat", meint Horváth. (Thomas Bergmayr, 6.4.2018)