Aline Girod-Frais ist studierte Forensikerin. In der Schweiz wird Forensik als Wissenschaft an der Universität gelehrt, während sie in Österreich hauptsächlich Sache der Polizei ist.

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STANDARD: Könnten Sie das perfekte Verbrechen begehen?

Girod-Frais: Theoretisch könnte ich das. Das Problem bei der Mehrheit der Verbrechen ist, dass sie nicht perfekt geplant sind und im Hintergrund viele zwischenmenschliche Beziehungen stehen. Verbrecher hinterlassen oft Spuren, weil sie gestresst sind oder überrascht werden. Außerdem werden Verbrechen selten nur anhand physischer Spuren aufgeklärt. Befragungen, Bankkonto- oder E-Mail-Überprüfungen spielen dabei auch eine wichtige Rolle. Die Kombination von Informationen ermöglicht, Verbrechen aufzuklären. Das perfekte Verbrechen ist sehr schwer zu begehen.

STANDARD: Welche Spuren hinterlassen wir?

Girod-Frais: Eine ganze Menge. DNA in allen Formen, etwa "Touch-DNA", also jene, die deponiert wird, wenn wir eine Oberfläche wie einen Tisch berühren. Wir hinterlassen auch Fingerspuren auf jeder Oberfläche, die wir ohne Handschuhe berühren. DNA und Fingerspuren werden oft am Tatort gefunden, können eine Person identifizieren und gelten meistens als "Königsspuren". Es gibt aber auch andere Spuren, etwa Schuhspuren. Diese führen meist zu einem Schuh, und nicht zu einer Person, sind aber besonders bei Serienverbrechen wie Einbruchsdiebstählen wichtig: Die Einbruchsdiebe tragen oft dieselben Schuhe an verschiedenen Tatorten, und so können Verbindungen zwischen Fällen erkannt werden. Weniger bekannt sind vielleicht die Faserspuren. Fasern werden beim Kontakt zwischen Stoffen übertragen. Dadurch können Rückschlüsse über die Anwesenheit einer Person in einem Raum gezogen werden. Die Herausforderung ist zu erkennen, welche Spuren relevant sind.

STANDARD: Wie verwischt man Spuren?

Girod-Frais: Indem man versucht, sie gar nicht erst zu legen. Schuh- und Fingerspuren, Haare, Kleiderfasern und DNA werden am Tatort hinterlassen, indem es Kontakt mit dem Raum gibt. Wenn sich eine Person mit Handschuhen, einem Overall oder sozusagen einem "Ganzkörperkondom" bedeckt, wird sie solche Spuren theoretisch nicht hinterlassen. Ihr Verhalten müsste aber sehr gut und professionell getimt sein, damit sie überhaupt keine Spuren hinterlässt. Auch wenn manche sehr vorsichtig sind, vergessen sie oft Kleinigkeiten. Der Handschuh hat keine DNA, wenn man aber schwitzt, sich ins Gesicht greift und dann etwas im Raum berührt, ist es schon aus: Die DNA ist abgegeben. Wenn Spuren also doch gelegt wurden, können Verbrecher versuchen, sie wegzuputzen. Aber solche Reinigungsversuche sind oft vergeblich, weil Methoden existieren, um weggeputzte Spuren sichtbar zu machen. Verbrechen sind meist nicht kalkuliert, sondern entstehen eher aus einem Impuls heraus. Fehler können leicht passieren, und jeder Fehler hinterlässt eine Spur.

STANDARD: Wie werden sie wieder sichtbar?

Girod-Frais: Es kommt auf die Spuren an. Ein Beispiel: Blut ist auf einem roten Teppich, wegen des schlechten Kontrasts sieht man auf den ersten Blick nichts. Es werden verschiedene Lichtquellen und Wellenlängen benutzt, um den Teppich aus verschiedenen Winkeln zu beleuchten. Blaues Licht, Weißlicht, UV-Licht und Infrarotlicht werden oft angewendet. Wenn Blut getrocknet ist, absorbiert es blaues Licht und erscheint sehr dunkel, im besten Fall dunkler als die Oberfläche, auf der es sich befindet. Wenn Licht nicht ausreicht, kommen Chemikalien ins Spiel. Was Blutspuren angeht, ist Luminol recht bekannt, eine Chemikalie, die auf Blut gesprüht wird und mit dem Hämoglobin des Blutes so reagiert, dass eine Lumineszenz sichtbar wird: Das Blut leuchtet hellblau. Prinzipiell werden bei der Spurensicherung erst optische Methoden genutzt, um die Spur nicht zu verändern, danach werden Chemikalien eingesetzt.

STANDARD: Wieso gilt DNA als "Königsspur"?

Girod-Frais: Außer bei eineiigen Zwillingen ist DNA von Person zu Person unterschiedlich. Sie ist in jeder Zelle unseres Körpers vorhanden. Alles, was wir berühren, und auch alles, was aus uns herauskommt – etwa Blut, Spermien, Schweiß -, enthält unsere DNA. Sie ermöglicht, eine bestimmte Person zu individualisieren. Deswegen wird DNA oft als die sicherste Spur betrachtet und genießt den Ruf der "Königsspur". DNA kann aber auch eine Ermittlung in die Irre leiten. Man muss vorsichtig sein, wenn es um die Bedeutung der Spuren geht. DNA kann zu einer bestimmten Person führen, aber es bedeutet nicht automatisch, dass diese Person der Täter ist.

STANDARD: Sie haben Ihre Dissertation über die Altersbestimmung von Fingerspuren geschrieben. Wie gehen Sie dabei vor?

Girod-Frais: Fingerspuren bestehen hauptsächlich aus Wasser und Fetten – etwa Cholesterin. Um eine Person anhand der Fingerspur zu identifizieren, werden die Papillarlinien, also die Linien, die wir auf den Fingerkuppen sehen und die die Fingerspur formen, genau analysiert: Wo kreuzen sich zwei Linien, wo stoppt eine Linie? Diese Details dienen dazu, eine Tatortspur mit Abdrücken in den Datenbanken zu vergleichen. Wir können aber auch die chemische Zusammensetzung einer Fingerspur analysieren. Dabei erfahren wir, welche Stoffe vorhanden sind und in welcher Menge. Diese Stoffe verändern sich mit der Zeit, und anhand dieser Veränderung können wir Hypothesen über das Alter der Fingerspur aufstellen.

STANDARD: In Ihrem aktuellen FWF-Projekt nehmen Sie unter anderem die Handschriftenanalyse unter die Lupe ...

Girod-Frais: Dabei untersuche ich, wie die Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren des Strafjustizsystems – Experten, Tatortgruppe, Ermittler, Staatsanwälte und Richter – funktioniert, besonders bezüglich DNA, Fingerspuren und Handschriften. Die Kommunikation ist wichtig, um die Informationen, die die Spuren liefern, richtig deuten zu können. DNA und Fingerspuren genießen einen guten Ruf, die Handschrift wird hingegen eher als "unsichere" Spur betrachtet. Teilweise weil Handschriftenanalyse mit Grafologie verwechselt wird. Grafologie soll den Charakter des Schreibers anhand der Schrift erforschen, aber basiert auf keinen wissenschaftlichen Grundsätzen. Handschriftenanalyse dagegen vergleicht Schriften von Dokumenten, um zu untersuchen, ob dieselbe Person sie verfasst hat. Sie basiert auf dem Grundsatz, dass die Schrift individuell ist. Das Ergebnis des Vergleichs ist eine Wahrscheinlichkeitsaussage und kann daher "unsicher" wirken, da allgemein erwartet wird, dass die Analyse von Spuren zu 100 Prozent sichere Ergebnisse liefert. Dabei wird oft vergessen, dass keine Spuranalyse zu 100 Prozent sicher ist. Sogar DNA-Ergebnisse basieren auf Wahrscheinlichkeitsaussagen.

STANDARD: Kommt es nur auf die Schrift an?

Girod-Frais: Die Satzbildung ist auch wichtig. Die Analyse beginnt eigentlich schon bei der Blattgestaltung. Handschriftenexperten achten zum Beispiel darauf, wo eine Person auf dem Papier zu schreiben beginnt, wie viel Platz nach oben, an der Seite oder zwischen den Zeilen bleibt, ob das ganze Blatt benützt wird ...

STANDARD: Verliert die Handschriftenanalyse in der digitalisierten Welt an Bedeutung?

Girod-Frais: Es stimmt, dass die Handschrift weniger verwendet wird. Ein wichtiges Anwendungsgebiet ist aber immer noch die Analyse von Testamenten, um ihre Echtheit zu überprüfen.

STANDARD: Wie hat sich die forensische Analyse in den vergangenen Jahren verändert, und was sind aktuelle Trends?

Girod-Frais: Die Technik hat immer mehr Platz eingenommen. Entwicklungen im Bereich der Fotografie, der Informatik, der Robotik oder auch der analytischen Chemie haben viele Prozesse vereinfacht. Die DNA-Analyse hat die Forensik und die Polizeiermittlung am Ende des 20. Jahrhunderts selbstverständlich auch revolutioniert. Die Technologie wird sich wohl weiterentwickeln. Wichtig ist, dass man sich nicht nur auf die Technologie konzentriert, sondern die Auswertung und Bedeutung der Analysen im Zentrum der Ermittlungen bleiben.

STANDARD: In welchem Zusammenhang stehen Forensik und Polizeiermittlung?

Girod-Frais: In der Schweiz gibt es ein eigenes Forensikstudium an der Universität Lausanne. Dort wird international im Bereich der Forensik geforscht und eine akademische Ausbildung angeboten, in der sich Studenten mit Chemie, Mathematik, Physik, Tatortarbeit, Spurensicherung und -auswertung beschäftigen. Nach dem Studium sind Absolventen "allgemeine Praktiker der Forensik". Die Forensik ist also eine eigenständige Wissenschaft, die die Polizei unterstützt. Hier in Österreich und in den meisten europäischen Ländern gibt es diese Ausbildung nicht. Tatortarbeit und Spurensicherung sind Sache der Polizei. Daher wird auch die Forschung auf diesem Gebiet hauptsächlich von der Polizei vorangetrieben. Es wäre aber von Vorteil, wenn die Forensik sich als eigenständige Wissenschaft an der Universität etablieren würde. (Oona Kroisleitner, 7.4.2018)