Große Klasse: Dirigentin Mirga Grazinyte-Tyla.

Foto: Hiroyuki Ito

Wien – Musiker, mit denen sie arbeitet, nennen sie Mirga – zu unaussprechlich scheint den meisten ihr Familienname. Doch steckt darin ein wichtiger Hinweis. Denn eigentlich lautet der Familienname der 1986 in Vilnius geborenen Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra nur Grazinyte.

Das nachgestellte Tyla ist Teil ihres Künstlernamens, der auf Litauisch Stille, Ruhe oder auch Schweigen bedeutet. Die intendierte Botschaft ist wesentlich: Musik entstehe aus Stille, aus der Ruhe des Zuhörens. Mirga Grazinyte-Tyla demonstrierte es im Musikverein: Bereits die gespannte Ruhe, die sie vor dem Einsatz des Vorspiels zu Wagners Tristan provozierte, war eine beeindruckende Konzerteröffnung.

Entschlossenheit und Klarheit

Ihr Talent ist früh aufgefallen, Grazinyte-Tyla stammt ja aus einer Musikerfamilie. Wie ihr Vater widmete sie sich zuerst dem Chordirigieren, verlegte sich dann in Graz aufs Orchesterfach. Später assistierte sie (unter anderem Dirigent Kurt Masur beim Orchestre National de France), um schließlich in Österreich als Musikdirektorin am Salzburger Landestheaters zu landen. 2012 war der Weg also nicht weit zum Dirigentenwettbewerb der Salzburger Festspiele, den sie schließlich gewann: Schon damals beeindruckte sie – wie es Dirigent und Juror Ingo Metzmacher formulierte – mit "Entschlossenheit und Klarheit". Sie wusste genau, was sie musikalisch wollte und wie das mit Orchestern umzusetzen wäre.

Inzwischen sind ihre gestalterischen Fähigkeiten offensichtlich nochmals deutlich gewachsen; auch die Präzision scheint sich gesteigert zu haben. Dabei ist der interpretatorische Zugang außergewöhnlich: Er widmet sich offenbar nicht in erster Linie den musikalischen Strukturen. Er verfolgt vor allem den Energiefluss, um über diesen Pfad erst recht Deutlichkeit zu erzielen.

Beethovens Fünfte in ungewohntem Licht

Nicht nur bei Wagner'schen Spannungsbögen, die Grazinyte-Tyla glühend modellierte, diese Energetik: Beethovens fünfte Symphonie ließ Grazinyte-Tyla in ungewohntem Licht erstrahlen, indem sie neben der Impulsivität des Kopfsatzes die Rundheit und Weichheit der sanfteren Linien betonte und das Finale in der Nähe des heiteren Landlebens der Schwesternsymphonie Pastorale ansiedelte.

Dazwischen gab's noch Schumanns Klavierkonzert mit Rudolf Buchbinder als feurig auftrumpfendem Solisten und Fires, ein Stück der litauischen Komponistin Raminta Serksnyte. Ja, und fulminant auch das zugegebene Finale aus György Ligetis Concert Românesc, das auch jene Selbstverständlichkeit demonstrierte, welche Grazinyte-Tyla auszeichnet.

Selbstverständlich wirkt nun endlich auch, dass das Bild des Dirigenten als klassischer Männerberuf der Vergangenheit angehört. Klar, als Grazinyte-Tyla Chefin in Birmingham wurde, betonte man noch einmal, dass sie die erste Frau in dieser Position sei. Immerhin brachte sie aber im Musikverein sogar jenen Besucher in Reihe 15, der anfangs noch chauvinistische Bemerkungen machte, zum Zuhören und Schweigen ... (Daniel Ender, 6.4.2018)