Illegale Rinderhaltung ist in Brasilien weitverbreitet.

Foto: Michael Klingler

Die indigene Bevölkerung – hier in der Gemeinde Novo Progresso – wehrt sich mit Straßenblockaden dagegen.

Foto: Michael Klingler

Innsbruck – Auf der einen Seite steht die Dringlichkeit, die letzten großen zusammenhängenden Regenwälder und damit einen großen natürlichen Kohlenstoffspeicher zu erhalten. Auf der anderen Seite stehen die Interessen eines Schwellenlands, das einen großen Teil seiner Wirtschaftskraft aus der Landnutzung bezieht. Brasiliens Dilemma spiegelt einen Kernkonflikt unserer Zeit, in der zwischen Wohlstandsinteressen und dem Kampf gegen den Klimawandel moderiert werden muss.

Das Land ist der weltweit größte Exporteur von Rindfleisch und der zweitgrößte von Soja. Auch die Mais- und die Baumwollproduktion sind stark weltmarktorientiert. Der Ausbau von Straßen sowie Bergbau- und Kraftwerksprojekte im Amazonasgebiet zeigen, dass Modernisierung und Expansion nicht haltmachen. Doch in den vergangenen Jahrzehnten wurden durch den wachsenden Einfluss von NGOs und einer internationalen Zivilgesellschaft auch große Erfolge für den Schutz der Regenwälder und der indigenen Territorien erzielt. Wurden bis Ende der 2000er-Jahre noch jährlich zwischen 10.000 und 30.000 Quadratkilometer Wälder pro Jahr gerodet, sanken die Zahlen danach drastisch. Der Wert für 2017 lag bei "nur" 6600 Quadratkilometern – was aber immer noch knapp der Größe des Landes Salzburgs entspricht.

Regenwald-Aktionsplan

Der Erfolg bei der Einbremsung der Entwaldung wird vor allem einem Aktionsplan Brasiliens zugeschrieben: Neue Schutzgebiete wurden ausgewiesen, die Kontrolle und die Sanktionierung von Umweltvergehen wurden verschärft, einschlägige Abkommen geschlossen. Auf 2006 datiert die Einführung eines Soja-Moratoriums, das – nach einer Kampagne der Umweltschutzorganisation Greenpeace – den Handel mit Soja, das auf illegal gerodeten Flächen angebaut wurde, verbot. 2009 folgte das G4-Rinderabkommen, das Kühe auf den Rodungsflächen als "illegal" qualifizierte.

Die großen Schlachthäuser, die naturgemäß einen wesentlichen Machtfaktor in Brasiliens Rindermarkt darstellen, verpflichteten sich dabei, keine Rinder zweifelhafter Herkunft mehr zu verarbeiten. Grundlage dafür war das gesetzlich bindende TAC-Abkommen, das Weideflächen als illegal beurteilte, die seit etwa 2009 unrechtmäßig abgeholzt wurden, in Schutzzonen liegen oder im Umweltkataster nicht erfasst sind.

Auch der Geograf Michael Klingler, der sich an der Universität Innsbruck mit den Veränderungen der Landnutzung im Amazonasgebiet beschäftigt, bekräftigt die Wichtigkeit dieser Abkommen. Er weiß aber aus eigener Anschauung – als Projektkoordinator im südlichen Amazonasgebiet, dass die Situation vor Ort nicht immer den Regeln am Papier entspricht. Das bisher vorherrschende Muster sei, dass der zunehmende Sojaanbau die Rinderbauern mit ihren Herden verdrängt und eine Kettenmigration auslöst. Aus dem Bundesstaat Mato Grosso zogen die Bauern dann etwa in den nördlicheren Bundesstaat Pará, um im tiefen Amazonas neue Flächen urbar zu machen.

"Das geht mit dem nationalen Mythos von unendlichen Ressourcen und frei zugänglichem Land im Amazonasgebiet einher, der von den Regierungen lange kultiviert wurde", zeigt Klingler Hintergründe auf. Die neuen Umweltschutzregeln verdecken die nach wie vor vorhandenen Verdrängungsprozesse. Die Situation wurde komplexer und weniger durchschaubar.

Steigende Bodenpreise

"Ein klassisches Verdrängungsszenario wäre, dass ein Großgrundbesitzer mit einer Gruppe Pistoleros die Kleinbauern vertreibt. Derartige Morde kommen heute noch vor", sagt der Geograf. "Die Verdrängung passiert heutzutage aber vielfach subtiler, etwa durch Landspekulation und steigende Bodenpreise. Die Bauern ziehen nach Norden, wo Land ,frei' und schwer kontrollierbar ist."

Es gebe durchaus Studien, die die Verdrängungsprozesse kritisch hinterfragen, sagt Klingler. Auch er konnte in seiner Untersuchung zeigen, dass die Umweltschutzmaßnahmen – in diesem Fall das Rinderabkommen – offenbar weniger gut greifen, als ihr positives Image erwarten lässt. Das Besondere an Klinglers Studie: Durch seine Tätigkeit vor Ort konnte er einen Datensatz auftreiben, der in der Forschung bis dato noch keine Verwendung fand.

Dieser stammt von Adepará, einer Veterinärorganisation im Bundesstaat Pará. "Adepará führt jährlich Impfungen gegen die Maul- und Klauenseuche durch. Die Impfrate ist sehr gut, mehr als 99 Prozent kooperieren mit der Impfkampagne", so Klingler. "Im Zuge der Impfungen werde etwa die Anzahl der Rinder oder der Waldanteil an den Weideflächen erhoben. Das Wichtigste aber ist: Es wird bei den jeweiligen Stallungen ein GPS-Punkt gesetzt, der die Herde klar verortet." Der Geograf konnte nun diesen aus dem Jahr 2014 stammenden Datensatz mit anderen Daten, etwa zu Schutzgebietsgrenzen, Umweltembargos oder Abholzungen, abgleichen und so überprüfen, wie viele Rinder nun tatsächlich auf Flächen weiden, die nach 2009 gerodet wurden.

350.000 illegale Rinder

Für die Gegend um Novo Progresso, einer an einer Hauptverkehrsachse nach Norden liegenden Gemeinde, konnte Klingler dabei nachweisen, dass mehr als 350.000 Rinder – etwa die Hälfte des Gesamtbestands – auf illegalen Flächen gehalten werden.

Selbst wenn es laut der Studie keine eindeutigen Beweise gibt, dass die Herden von den großen Schlachthöfen aufgekauft werden, weisen doch viele Indizien darauf hin. "Die langjährigen Feldforschungen ergaben, dass es durchaus Praktiken gibt, die strengen Regeln zu umgehen. Beispielsweise werden Mittelsmänner eingeschaltet, die legale Flächen besitzen und die die Tiere an die Schlachthöfe weiterverkaufen", erklärt Klingler.

Für eine lückenlosere Umsetzung der Null-Entwaldungsziele seien klare Besitzverhältnisse und eine strengere Kontrolle der Rinderbestände notwendig. "Um die gesamte Lieferkette zu überprüfen, könnte man etwa GPS-Chips verwenden, die in den USA bereits üblich sind. Mit ihnen können die Aufenthaltsorte von Rindern über einen längeren Zeitraum nachvollzogen werden", schlägt der Wissenschafter vor.

Dass die Lücken in den Null-Entwaldungsplänen bald geschlossen werden, ist indes kaum zu erwarten. Im aktuellen politischen Klima würden Bemühungen um mehr Umweltschutz eher untergraben. Klingler: "Im Moment bestimmen Korruptionsskandale, eine Amnestie für Umweltverbrechen und Schutzgebietsverkleinerungen die Schlagzeilen der brasilianischen Nachrichten." (pum, 9.4.2018)