Lyrik war für die 1931 geborene Ruth Klüger schon früh ein Mittel der Lebensrettung.

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Ruth Klüger, "Gegenwind. Gedichte und Interpretationen", € 18,50 / 128 Seiten. Zsolnay-Verlag, Wien 2018

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Die Lyrik braucht das Gespräch, wer über Lyrik schreibt, muss mit dem Widerstand der Leser rechnen. Ruth Klüger nennt diesen Widerstand im "Vorwort" zu ihrem neuen Buch den "Gegenwind". Das Vorwort schließt mit dem Satz: "Lyrik lebt, die Frankfurter Anthologie ist ein Beweis." Nein, sagt der Gegenwind. Auch wenn der Lyrik in der FAZ zwischen den Blöcken der journalistischen Macht- und Finanzpolitik weitere vierzig Jahre ein Platz eingeräumt wird, heißt das nicht, dass die Lyrik lebt. Darum ist es gut, dass die von Ruth Klüger ausgewählten Gedichte und deren Interpretationen und Übersetzungen, die zuerst in der FAZ erschienen sind, als selbstständiges Buch herausgekommen sind. Sofort haben sie begonnen, ihre Lebendigkeit zu entfalten.

Lest Gedichte!

In einem erfrischenden Internet-Eintrag (AVIVA-Berlin) heißt es aus Anlass des Erscheinens von Gegenwind und offensichtlich begeistert von Klügers Lyrik-Buch: "Lest Gedichte, ergründet alte und moderne Gedichte, rätselt, diskutiert und überwindet den Widerstand, den 'Gegenwind', den ein Gedicht auszulösen vermag. Lest Ruth Klügers Buch – es könnte ein Entschluss entstehen: kein Tag ohne Gedicht, vielleicht auch ein eigenes."

Die Lyrik war für die 1931 geborene Ruth Klüger schon früh ein Mittel der Lebensrettung. In ihrer Wiener Zeit, als sie als jüdisches Kind in eine große Einsamkeit hineingezwungen wurde, vertrieb sie sich die Zeit mit dem Auswendiglernen von Gedichten, dann, im Vernichtungslager, versuchte sie das, was sie im Lager "aufgetischt bekam", wie sie mit der ihr eigenen Nonchalance schreibt, "zu bewältigen, indem [sie] darüber Reime machte". Sie hat eines dieser damals geschriebenen Gedichte, Der Kamin, zum ersten Mal im Parlament in Wien vorgetragen und kommentiert.

Zugelaufen wie Katzen

Wenn man sich die Frage nach der getroffenen Auswahl der Gedichte stellt, findet man im "Vorwort" dazu ein Beispiel von Klügers charakteristischem Flüchtlings- und Exilantenhumor. Sie habe die Gedichte – es sind 21, davon zwölf deutschsprachige und neun, meist von ihr übersetzte, englischsprachige – gar nicht ausgesucht: "Sie sind mir sozusagen zugelaufen wie streunende Katzen, aus einer ganzen Menagerie von Versen, die mir im Kopf spuken oder mich aus Büchern, Liedern oder aus dem mündlichen Gemeingut anspringen, wie etwa die von Emma Lazarus auf der Freiheitsstatue verewigten Verse." Manche Gedichte habe sie lange mit sich "herumgetragen", wie etwa Chamissos Heimweh, das er in einer Fremdsprache wiederaufleben ließ, die ihn zum Europäer stempelte, der in kein Land gehörte, weil kein Land ihm gehörte.

Diese zwei winzigen Beispiele aus der Reihe der interpretierten Gedichte zeigen, dass uns in Gegenwind Fundstücke vorgelegt werden von jemand, den das Emigrantenschicksal hellsichtig gemacht hat für das, was retten kann. Wir haben es in Klügers Kommentaren mit "Flüchtlingsgesprächen" über Gedichte zu tun. Bertolt Brecht gehört ja zu den "Ahnherren" ihres Denkens und Schreibens sowie, neben anderen, vor allem Sigmund Freud. Auf ihn hat sie in der Wiener Parlamentsrede hingewiesen, wenn sie den Prozess der Verdrängung erklärt, den sie in ihre hellsichtige "Gespenster-Poetik" übersetzt und auf die Verleugnungsstrategien der Gesellschaft anwendet: "das, was geschehen ist, verschwindet ja nicht, es geistert nur."

Die Arbeit des Freiwerdens

Die individuelle dichterische Arbeit des Freierwerdens ist der rote Faden, der sich durch ihr Werk zieht, auch dort, wo es nur um die Auswahl der Gedichte für den Sammelband geht. Die in sich selber verschlossene traumatische Vergangenheit spukt einem im Kopf herum, springt einen an, läuft einem zu, man trägt sie mit sich herum, und plötzlich, wie nebenbei, ist man fähig, es zu sagen.

"Wir können, was gegen uns gerichtet ist, wenden, und die Welt geht uns wieder auf", heißt es in Das Erzählen in dieser Zeit (1952) von Ilse Aichinger, einer anderen Überlebenden des Holocausts. Ruth Klüger hat von ihr das Gedicht Zeitlicher Rat in die Gegenwind-Anthologie aufgenommen. Es ist das Gedicht, das dem Verstehen die größten Schwierigkeiten entgegensetzt, und gerade diesem Gedicht, das sich jedem geläufigen, von den Bahnen der Sprache vorgespurten Verstehen entziehen möchte, spricht die Interpretin die Fähigkeit zu, "durch die Schwere des Alltags [zu] helfen". Letztlich trifft sich diese Einsicht mit unserer aus dem Alltag gewonnenen Erfahrung, dass seiner "Schwere" und seiner vertrackten Komplexität nicht durch die geläufigen Sprüche beizukommen ist, sondern eher, "an gewissen Tagen", mit der Hilfe von "unwillkürlichen Ratgebern", zu welchen die Gedichte werden können. Aichingers Gedicht Zeitlicher Rat will dank seiner Widersprüche und trotz seines Titels nicht überzeugen. Weitaus tröstlicher, schafft es einen Schwebezustand, in dem wir uns "wiedererkennen" – mit dieser feinen Nuancierung lässt Klüger die Kunst des Lesens von Gedichten in die schönste aller Künste, die Lebenskunst, übergehen. (Hans Höller, 7.4.2018)