Identifikation ohne Wenn und Aber.

Cartoon: Michael Murschetz

Das Problem ist, dass über Integration nur da geredet wird, wo sie fehlt, beziehungsweise da, wo sie fehlgeschlagen ist. Millionen von Migranten haben sich im Laufe der Jahrzehnte durch Eigenleistungen und ohne staatliche Maßnahmen in dieses Land integriert. Über diese Migranten redet man nicht. Sie haben Deutschland reicher und bunter gemacht, sie haben ihre Persönlichkeit eingebracht und zur Entwicklung dieses Landes beigetragen. Weil sie ihre mitgebrachte Religion und Kultur als einen Teil ihres Selbst verstanden haben, als Ergänzung zur bestehenden, nicht aber als maßgebliches Kriterium ihrer Identität.

Selbstverständlich haben sich auch viele Muslime in Deutschland durch Eigenleistung und Engagement integriert. Doch, s. o., über sie redet man nicht. Gleichwohl werden sie mit einverleibt, wenn es um das Scheitern von Integration geht, um Parallelgesellschaften, Gewalt, religiösen Fanatismus. Diese positiven Beispiele verschwinden hinter jenen, deren Integration schiefgelaufen ist oder die sich bewusst gegen ein Einfügen in die Mehrheitsgesellschaft entschieden haben. Die gut integrierten Muslime haben all das, was sie in dieser Gesellschaft erreicht haben, nicht geschafft wegen des Islam und auch nicht wegen der politischen Aufwertung der Islamverbände. Sondern weil sie auf vielen verschiedenen Ebenen ganz individuelle Entscheidungen getroffen haben.

Gescheitert ist dagegen der Versuch, Muslime als Kollektiv zu integrieren, durch Institutionalisierung des Islam, durch Religionsunterricht oder durch Staatsverträge mit den konservativen Islamverbänden. Dieser Versuch hat zwei Schönheitsfehler: Es gibt nicht die Muslime; leider fallen die konservativen stärker auf und sind lauter, deshalb bestimmen sie nicht nur den Diskurs, sondern auch das Bild, das weite Teile der Gesellschaft von Muslimen haben. Die Konzentration auf sie stärkt Integrationsverweigerer und wertet die Kultur des Patriarchats politisch auf. Gleichzeitig wird es für die hiesigen Gegner der Integration leichter, all jene zu ignorieren, die sich längst als Teil dieses Landes verstehen.

Hinzu kommt, dass der Staat den Fehler machte, die Integrationsbemühungen zu islamisieren und damit die Gegner der Integration auf muslimischer Seite zu Wächtern des Integrationsprozesses zu machen. Nicht das Individuum wurde in seinen Rechten und Kompetenzen bestärkt, sondern das religiöse und patriarchalische Kollektiv, das dem Individuum im Wege steht. (...)

Der Staat verlagert das Problem nur, indem er nach Lösungen innerhalb des patriarchalischen Systems sucht, das für das Scheitern der Integration mitverantwortlich ist. Denn wenn der Schüler eine Lehrerin nur respektieren kann, wenn sie die gleiche Herkunft und Religion wie er hat, signalisiert der Staat letztlich, dass eine Lehrerin ohne einen solchen Hintergrund nicht respektiert werden muss. Wenn ein Straftäter einen Polizisten nur respektieren kann, wenn er eine bestimmte Religion oder Ethnie hat, nicht aber, weil er den Staat repräsentiert, dann legitimiert und vertieft der Staat dadurch die Clanstrukturen und die Parallelgesellschaften.

Überspitzt formuliert: Nach all den Bemühungen, Konferenzen und Integrationsprojekten sind vor allem der politische Islam und die Kultur des Patriarchats in Deutschland gut integriert, und das mit staatlicher und kirchlicher Unterstützung. Integration kann aber nur gelingen, wenn das Individuum sich vom Würgegriff des Kollektivs befreit und seinen eigenen Weg in die freie Gesellschaft beschreitet. Sie kann nur gelingen, wenn der Einzelne alle moralischen und gesellschaftlichen Mauern zwischen sich und der Gastgesellschaft eliminiert und sich ohne Wenn und Aber mit seiner neuen Heimat und deren Werten identifiziert. Geschieht das nicht, findet keine Integration statt.

Bildung allein nützt nichts

Diese vorbehaltlose Identifikation scheint besonders Menschen mit muslimischem Background schwerzufallen. Verglichen mit früheren Generationen gibt es zwar eine positive Entwicklung in den Bereichen Bildung und Arbeit. Immer mehr junge Muslime machen Abitur; immer mehr durchlaufen eine Ausbildung und haben gute Jobs oder machen sich selbstständig. (...) Verglichen mit der Bildungsentwicklung der autochthonen Deutschen und anderer Migrantengruppen sind diese Schritte bei Muslimen jedoch deutlich kleiner: In Statistiken liegen Schulabbrecher mit muslimischem Hintergrund vorn, weniger als 60 Prozent schaffen den Hauptschulabschluss, nur fünf Prozent einen akademischen Abschluss.

Eine fundierte (Aus-)Bildung, Sprachkompetenz, ein Studienplatz oder ein guter Job sind wichtige Voraussetzungen, aber keine ausreichenden Belege für eine gelungene Integration. Denn sie sagen nichts darüber aus, ob jemand die westlichen Werte ablehnt oder gar verachtet. Mohammed Atta, der Anführer der Hamburger Gruppe, die für den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 verantwortlich war, erfüllte in Sachen Bildung alle Voraussetzungen für eine perfekte Integration und war dennoch ein brutaler Mörder, der die westliche Zivilisation nicht nur verachtete, sondern sie vernichten wollte. (...) Auch die vielen jungen Menschen mit türkischen Wurzeln, die sich 2016 in Köln versammelten, um Erdogan zu huldigen, und für die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei demonstrierten, waren nicht sozial schwache, gesellschaftlich "abgehängte" oder gar ungebildete Türken. Es war ein Querschnitt durch alle Schichten, der sich da versammelt hatte.

Was mich irritierte, waren die vielen Jungen, die sich ausgezeichnet artikulieren konnten. Sie sind hier aufgewachsen, sie leben hier und genießen die Vorzüge der Freiheit und Demokratie und votieren für ein Referendum in der Türkei, welches das Land zurück zum autoritären Einmann- und Einparteiensystem katapultiert! Sie beklagen sich, wenn sie von den deutschen Medien als Minderheit nicht fair behandelt werden, und stimmen dennoch für einen Mann, der kurdische Parlamentarier und westliche Journalisten einsperren lässt und sie als "Terroristen" bezeichnet, nur weil sie seiner Linie nicht folgen.

Die wenigsten haben vor, in die Türkei zu ziehen, die mit ihrer Hilfe in ein autoritäres System verwandelt werden konnte. Während in der Türkei das Ergebnis denkbar knapp ausfiel, stimmten in Deutschland 63 Prozent mit Ja. Knapp die Hälfte der hier lebenden Wahlbeteiligten gab die Stimme ab – es waren ganz offensichtlich vor allem jene, die bis heute die Grundprinzipien von Demokratie und (Meinungs-)Freiheit nicht verinnerlicht haben. Sie werden weiterhin in Deutschland leben und sich darüber beschweren, dass sie von der Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert oder ausgegrenzt werden.

Mit Füßen getretene Werte

In diesem Land herrscht eigentlich Konsens darüber, dass die Würde des Menschen, nicht nur die der eigenen Gruppe, unantastbar ist. Es herrscht Konsens über Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte, Gleichberechtigung von Mann und Frau und die Meinungsfreiheit. Wie kann man hier gut integriert sein und diese Werte dennoch mit Füßen treten oder auch nur infrage stellen?

Viele, die Erdogan in Köln zujubelten, waren "Produkte" unseres Bildungssystems. (...) Was ist bei uns so schiefgelaufen, dass unsere Gesellschaft und unser Bildungssystem Menschen hervorbringen, die die Instrumente der Aufklärung benutzen, um die Aufklärung rückgängig zu machen?

Integration besteht nicht nur aus Bildung, Sprache und Arbeit. Es gibt eine Matrix von vier Feldern: strukturelle Integration, kulturelle Integration, soziale Integration sowie emotional-affektive beziehungsweise identifikative Integration. Wer nur die Erfolge auf dem ersten Feld preist und von gelungener Integration spricht, erzählt den Menschen in diesem Land ein Märchen. Nur wenn Erfolge auf allen vier Gebieten verzeichnet werden können, ist eine Integration wirklich gelungen. Wer sich mit diesem Land nicht identifiziert und die mitgebrachte Kultur als bessere Alternative betrachtet, will sich nicht integrieren. Wer immer neue Angebote an Migranten macht, aber nicht weiß, was man von Migranten erwarten darf, schafft keine Integration. Wer nur Appelle sendet, aber keine Steuerungs-, Kontroll- und Sanktionierungsmechanismen hat, wird nicht ernst genommen. Wer Neuzugewanderten nicht schon an der Pforte ehrlich sagt, dass sie sich nur gut integrieren können, wenn sie auf Teile ihrer mitgebrachten Kultur verzichten, vor allem auf jene, die die hiesige Kultur verachten und ablehnen, lügt sich selbst in die Tasche. (...)

Integration ist keine Einbahnstraße, beide Seiten müssen et- was dafür tun – und beide müssen es wollen. Wenn man sich in eine offene, freie Gesellschaft wie die deutsche integrieren will, muss man sich weigern, Teil von unfreien, undemokratischen Strukturen zu bleiben. Multikulturalität und Hybridität, also die Mischung von zwei eigentlich getrennten Systemen, können nur Früchte tragen, wenn sich Menschen mit Migrationshintergrund von jenen Teilen ihrer Kultur trennen, die die Konfrontation mit der anderen Kultur fördern, und wenn sie die Vermischung als Bereicherung für ihre Identität auffassen und nicht mit deren Verlust gleichsetzen.

Freiheit und Unfreiheit

Integration bedeutet Entscheidung. Das aber setzt Freiheit voraus. Eine patriarchale Kultur, die auf Ehre und Gehorsam setzt, räumt dem Individuum diese Freiheit nicht ein. Mainstream-Theologie des Islam und Stammesmentalität zwingen Muslime dazu, sich entweder als Muslim oder als Europäer zu definieren. Integration bedeutet deshalb eine klare Positionierung gegen diese Theologie und dieses Patriarchat. Wer das auf der einen Seite nicht fordert und wer das auf der anderen nicht umsetzt, betreibt Augenwischerei, denn zwischen Freiheit und Unfreiheit gibt es keinen Mittelweg. (Hamed Abdel-Samad, 6.4.2018)