Das Innenohr, bestehend aus der Hörschnecke und dem Gleichgewichtsorgan, weist minimale Formunterschiede zwischen verschiedenen Populationen auf. Diese Variationen können dabei helfen, die Ausbreitung des Homo sapiens von Afrika aus nachzuvollziehen.

Illustr.: Marcia Ponce de León, Christoph Zollikofer

Zürich – Die Wanderbewegungen des Menschen kurz nach seiner Entstehung im südlichen Afrikas kann anhand genetischer und morphologischer Analysen belegt werden. Allerdings lassen morphologische Daten des Schädels und Skeletts oft nur bedingt Rückschlüsse auf das geographische Ausbreitungsmuster zu, vor allem wegen der vielfältigen Anpassungen des menschlichen Skeletts an die örtlichen Umweltbedingungen. Ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Paläoanthropologen von der Universität Zürich (UZH) konnte nun im Fachjournal "PNAS" zeigen, dass die Morphologie des Innenohrs ein geeigneter Indikator für die Populationsgeschichte und Ausbreitung des Menschen ist.

Knöchernes Labyrinth

Wie bei allen Wirbeltieren ist auch beim Menschen der Gehör- und Gleichgewichtssinn in einem Hohlraumsystem in der Schädelbasis enthalten, dem knöchernen Labyrinth des Innenohrs. Die Wissenschafter untersuchten die Labyrinthstrukturen in menschlichen Populationen von Süd- und Nordafrika über Europa, Asien, Australien und Amerika bis nach Patagonien. Mittels Mikro-Computertomographie konnten sie die dreidimensionalen Daten des knöchernen Labyrinths zerstörungsfrei erfassen.

Dabei zeigte sich, dass die Form des Labyrinths stark variiert: Die Variation innerhalb einer Population ist bedeutend größer als die Variation zwischen den Populationen. "Dieses typisch menschliche Variationsmuster ist auch von genetischen Vergleichsdaten bekannt. Es zeigt, dass alle Menschen sehr nahe miteinander verwandt sind und ihre Wurzeln in Afrika haben", erläutert UZH-Anthropologin Marcia Ponce de León.

Übereinstimmungen mit DNA-Analysen

Das Team fand weiter heraus, dass die dreidimensionale Form des Labyrinths wichtige Informationen über die globale Ausbreitung des Menschen vom afrikanischen Kontinent aus enthält. Je weiter eine Population geographisch von Südafrika entfernt ist, desto mehr unterscheidet sie sich in der Form des Labyrinths von südafrikanischen Populationen. Überdies stimmen die Labyrinth-Daten mit jenen von DNA-Untersuchungen überein, die zeigen, dass die genetische Distanz mit der geographischen Distanz zu Afrika zunimmt.

Die Labyrinth-Daten lassen auch Schlüsse auf Populationsbewegungen innerhalb der Kontinente zu. So ist etwa die Labyrinth-Form von prähistorischen Populationen auf den Sunda-Inseln (Indonesien) ähnlich zu jener der Ureinwohner von Papua und Australien, während die heutige Bevölkerung größtenteils aus dem malaiischen Archipel zugewandert ist. Andererseits lässt sich aus dem Labyrinth ablesen, dass die heutigen Europäer und Japaner ihre Vorfahren mehrheitlich in den jeweiligen lokalen Bevölkerungen der Jungsteinzeit haben.

Zufällige Mutationen ohne Konsequenzen

Die neuen Resultate überraschen, weil bisher angenommen wurde, dass die Form des Labyrinths hauptsächlich durch seine Funktion bestimmt wird. Nun zeigt sich, dass trotz sehr hoher funktioneller Anforderungen an Gleichgewichts- und Hörsinn die Natur eine erstaunlich weite Variation des Labyrinths zulässt. "Dies beruht wohl auf zufälligen Veränderungen im Erbgut. Solche Veränderungen haben funktionell wenig bis keine Konsequenzen, aber die damit einhergehenden strukturellen Veränderungen sind ein Dokument der menschlichen Ausbreitungs- und Evolutionsgeschichte", resümiert Koautor Christoph Zollikofer von der UZH.

Der kompakte Knochen, der das Labyrinth umgibt, ist auch für die Paläogenetik interessant, da er große DNA-Mengen enthält. Hier besteht ein akuter Interessenkonflikt: Während computertomographische Untersuchungen nicht-invasiv sind, wird bei der DNA-Gewinnung das Labyrinth zerstört. "Die Paläogenetik ist ein rasant wachsendes Forschungsgebiet, und es wurden bereits hunderte Labyrinthe aus archäologischen Skelettsammlungen ohne vorgängige Dokumentation zu Knochenstaub zermahlen", so Zollikofer. Das Forschungsteam setzt sich deshalb dafür ein, dass routinemäßig computertomographische Daten erfasst werden, bevor Knochen für die DNA-Extraktion freigegeben werden. "Diese Daten bilden ein unersetzliches Archiv der Geschichte von fossilen und heutigen menschlichen Populationen", meint auch Ponce de León. (red, 8.4.2018)