Wien – In einem Geschworenenverfahren ist es höchst ungewöhnlich, dass ein Vorsitzender eine Zeugin fast eine Stunde lang ohne Unterbrechung sprechen lässt. Am dritten Prozesstag gegen den 19-jährigen Lorenz K., der zugibt, IS-Mitglied gewesen zu sein, aber bestreitet, einen Zwölfjährigen zu einem Selbstmordanschlagsversuch angestiftet oder selbst Attentate geplant zu haben, bekommt die Mutter des Angeklagten diese Chance.

Die 42-Jährige bemüht sich, das Bild eines Verzweifelten zu zeichnen. Als Kind sei Lorenz immer fröhlich gewesen, "beinahe ein Kasperl". In der vierten Klasse Hauptschule sei das zum Problem geworden: Er habe laut Lehrpersonal andere Kinder gestört, durfte nicht auf Sportwoche mitfahren, geriet dann in schlechte Gesellschaft – und wurde delinquent.

Religiosität nur eine Phase

In der Jugendstrafvollzugsanstalt Gerasdorf habe sich der 15-Jährige dann im Jahr 2015 mit Religion beschäftigt. "Ich persönlich bin voll dagegen", sagt die Krankenschwester dazu, sie sei aber davon überzeugt gewesen, es handle sich nur um eine pubertäre Phase. Zunächst habe es danach ausgesehen: Nach der Entlassung fand K. einen Job, den er aber verlor, als der Lehrherr über eine Gehaltsexekution informiert wurde.

Es folgten dutzende – und erfolglose – Bewerbungen. "Er war dann überzeugt, dass ihn ohnehin niemand mehr nimmt", erinnert sich die Mutter. Ihr Sohn zog sich zurück, ging nicht mehr hinaus, fing an zu beten. "Als Eltern haben wir dann Angst gehabt, keine Frage." Sie sei aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung auch überzeugt gewesen, dass ihr Kind psychiatrische Hilfe benötige, seine Reaktion darauf: "Na, ich bin nicht deppad."

Mutter telefonierte mit deutscher Freundin

Im Sommer 2016 verriet er, dass er eine Freundin in Deutschland habe, im November wollte er sie besuchen. Die Mutter war misstrauisch, wollte Handynummer und Adresse der 16-Jährigen, rief sie auch an und drohte, das Mädchen solle Lorenz nicht wieder auf die schiefe Bahn führen, sonst werde sie die Eltern des Teenagers verständigen.

Sie gab ihren Widerstand gegen die Reise dennoch auf, gab ihrem Sohn 200 Euro, packte noch seine Sachen, bereitete eine Jause für die Fahrt vor. Wie vereinbart meldete sich der damals 17-Jährige viermal pro Tag, im Dezember kam er retour. "Er hat dann mitgemacht bei der Weihnachts- und der Silvesterfeier, wollte wieder Arbeit finden und ins Fitnessstudio", erinnert sich die Zeugin – die religiöse Phase schien vorbei.

Allerdings berichtet sie von angeblichen Panikattacken – der Sohn sei schweißgebadet in der Nacht aufgewacht, habe fahrig gewirkt. "Was träumst du?", habe sie ihn gefragt. "Ich träume, dass ich in Deutschland bin und von der Polizei festgenommen wurde", lautete die Antwort. "Er hat so Angst gehabt, wieder ins Gefängnis zu müssen", ist die Mutter überzeugt. Die noch einen Abschlusssatz für die Geschworenen hat: "Der Lorenz hat sehr viele Tiefpunkte erlebt. Dadurch ist er labil geworden."

"Ein Mann, der Menschen töten wollte"

Der Staatsanwalt, der ebenso wie der Vorsitzende nicht namentlich in den Medien genannt werden möchte, nimmt die teils emotionale Aussage der Frau zur Kenntnis. "Offenbar ist er ein Mann mit zwei Gesichtern. Ihr Sohn – da verstehe ich Ihre Eindrücke vollkommen –, aber auch ein Mann, der Menschen töten wollte."

Die Zeugin muss bestätigen, dass ihr Sohn sie angelogen hatte. Seine Freundin hatte er beim Deutschland-Aufenthalt nach islamischem Recht geheiratet. Mit einem Komplizen soll er in einem Park zu Testzwecken einen Sprengsatz gezündet haben, da er mit seiner "Gattin" einen Anschlag verüben wollte.

Und der Albtraum beruhte auf Tatsachen: Nachdem die Eltern des Mädchens die Polizei alarmiert hatten, wurde K. in Aachen von der Polizei befragt, konnte aber wieder gehen, obwohl die Beamten ein Bild eines Sprengsatzes auf seinem Mobiltelefon entdeckten. Erst am 11. Jänner erhielt der heimische Verfassungsschutz eine Warnung aus Deutschland – neun Tage später wurde K. in Wien festgenommen.

Videos und Botschaft des Kalifen

Der Ankläger mag auch nicht glauben, dass sich K. nach der Episode in Deutschland von radikalem Gedankengut lossagte, wie der Angeklagte selbst behauptet. Denn mit einem weiteren Zeugen, einem heute 13-Jährigen, chattete er noch im Jänner 2017 recht Eindeutiges. Videos von IS-Gräueltaten und Kampflieder schickte man sich gegenseitig. "Ich war selber für den IS, ehrlich gesagt", offenbart der junge Zeuge. "Es war cool." Er habe auch mit dem Gedanken gespielt, nach Syrien zu gehen. K. habe aber geantwortet: "Der Kalif will, dass wir hier starten!"

Der Angeklagte bleibt dabei: Das sei keine Aufforderung gewesen, er habe nur weitergegeben, was ihm sein IS-Verbindungsmann erzählt habe. Er selbst habe niemanden zu einem Anschlag anstiften wollen. "Wäre es dann nicht gescheiter, so etwas wie 'Lass den Blödsinn' zu schreiben?", will der Vorsitzende wissen. "Haben Sie nicht daran gedacht, dass das gefährlich ist?" – "Nein."

Die Aussage seiner Mutter hat der Angeklagte, dessen Gesicht von einem kurz fassonierten Bart gerahmt ist, mit vor der Brust verschränkten Armen verfolgt, den Blick auf den Boden gerichtet. Deutlich mehr Emotionen hatte er davor bei der Befragung jenes Verfassungsschutzbeamten gezeigt, der ihn mehrmals einvernommen hat.

Brisanter Auftritt eines Verfassungsschützers

Der Auftritt ist brisant: Schließlich hatte K. am ersten Prozesstag behauptet, der Polizist habe ihn bei der ersten Einvernahme geschlagen. "So ein Vorfall hat nie stattgefunden", antwortet der Beamte bestimmt. "Du bist ein Lügner, ein Lügner bist du!", echauffiert sich der Angeklagte.

Der Polizist bleibt dabei: Zunächst habe K. alle Angaben verweigert, mit psychologischem Einfühlungsvermögen habe man aber das Eis gebrochen. Genauer: "Wir haben auf ihn eingeredet wie auf eine kranke Kuh." Der Angeklagte wirke zwar manchmal nach außen aggressiv, sei aber in Wahrheit "ein sehr sensibler Mensch", ist der Beamte überzeugt.

"Ich war mit den Handschellen am Stuhl gefesselt – und du hast mich geschlagen. Hast du mich geschlagen?", tönt es von der Anklagebank. "Da her hast du mir eine Watsche gegeben!", tippt sich K. auf die rechte Stirnhälfte. Auf Nachfrage von Verteidiger Wolfgang Blaschitz beharrt der Zeuge: Es habe ein "sehr, sehr gutes Vernehmungsklima geherrscht".

Am Mittwoch wird der Prozess fortgesetzt. (Michael Möseneder, 9.4.2018)