Ilse Ghekiere sieht "seltsame Grauzonen im Tanz".

Foto: Elsa B. Mason

Die Sexismusdebatte hat den Tanz erreicht. Erst in den USA, dann in Frankreich, in Deutschland und in Belgien. Mit einem einzigen Artikel hat die Brüsseler Tänzerin Ilse Ghekiere gewaltig Staub in der großen belgischen Tanzszene aufgewirbelt. Daraufhin fragte sich sogar das belgische Parlament, was gegen Sexismus im Tanz zu tun sei. Ja, also was tun? Im Vorfeld eines Auftritts im Wiener Tanzquartier haben wir mit Ghekiere gesprochen.

STANDARD: Wie ist es zu Ihrem Artikel gekommen?

Ghekiere: Angefangen hat es 2016 mit einer Forschungsarbeit. Im Zusammenhang damit begann ich, Interviews mit meinen Tanzkolleginnen zu führen. Ich habe mich entschieden, den Teil über sexuelle Belästigung daraus zu publizieren.

STANDARD: Haben Sie Ihre Interviews und die Belästigungsfälle gezählt?

Ghekiere: Bis heute sind es rund achtzig. Dabei hatte nicht jede der Tänzerinnen klare Situationen der Belästigung erfahren. Früher dachten viele Kolleginnen, das gehört eben zur Kultur, und man muss einfach stark sein. Wenn ich aber sehe, wie Belästigung definiert ist, dann wird mir klar, dass auch Situationen, die von vielen Betroffenen nicht als Belästigung angesehen werden, als solche oder als Machtmissbrauch verstanden werden können.

STANDARD: Wie fielen die Reaktionen auf Ihren Artikel aus, seit er vor fünf Monaten veröffentlicht worden ist?

Ghekiere: Es gab viel Unterstützung, aber auch Befürchtungen, dass die Tanzszene durch den Schmutz gezogen werden könnte, weil mein Artikel große Beachtung in den Medien fand. Und die Leute, die spürten, dass sie "fürchten" sollten, beim Namen genannt zu werden, blieben im Allgemeinen eher ruhig. Sehr schön war, dass eine neue Loyalität unter den Tänzern entstand.

STANDARD: Im Gegensatz zur #MeToo-Bewegung halten Sie sich damit zurück, Namen zu nennen. Warum?

Ghekiere: Auf unserer Facebook-Seite können die Leute keine Namen nennen, nicht einmal die eigenen. Zu lesen gibt es nur Beispiele dafür, was Belästigung ist. Damit schaffen wir Empathie. Das war auch der ursprüngliche Gebrauch des MeToo-Hashtags: Einfühlung zu erzeugen und nicht mit dem Finger zu zeigen. Denn es ist gefährlich, Facebook als Verurteilungssystem zu nutzen. Ich denke, wir sind sehr mangelhafte Richter. Und wenn wir auf bestimmte Choreografen zeigen, könnte die Idee aufkommen, dass sich das Problem löst, wenn wir diese Personen loswerden. Das wäre aber ein zu leichter Ausweg für alle anderen.

STANDARD: Ist der Tanz besonders anfällig für Übergriffe?

Ghekiere: Es gibt seltsame Grauzonen im Tanz. In einem Kunstfeld, das sich um den Körper dreht, überrascht es, wenn jemand nicht Belästigung erfahren oder zumindest beobachtet hat. Im Tanz gibt es eine Kombination aus professionellem Körper, Intimität, Hierarchie und begrenzten Arbeitsmöglichkeiten. Es ist schwer, kritisch zu sein respektive sich zu Wort zu melden, wenn man im Nu den Job verlieren und ersetzt werden kann.

STANDARD: Gibt es Reaktionen von Kuratoren oder Programmverantwortlichen?

Ghekiere: Na ja, die suchen immer danach, was gerade "heiß" ist. #MeToo ist "heiß", mein Artikel ist "heiß". Man wird zuweilen benutzt.

STANDARD: Und von in die Kritik geratenen Choreografen distanziert man sich?

Ghekiere: Ja, genau. Programmmacher sind extrem mächtig und wollen keine sexistischen oder misogynen Choreografen zeigen, die ja – wenigstens in dieser Saison – definitiv nicht "heiß" sind.

STANDARD: Wird eine Organisation gegründet, an die sich Opfer sexueller Belästigung wenden können?

Ghekiere: Das versuchen wir herauszufinden. Die Idee kam auf, ob eine Telefon-Hotline eingerichtet werden soll. Ich selbst bin eine große Anhängerin von Peer-Support, und wir haben ein Budget dafür bekommen, Vertrauenspersonen als Freelancer auszubilden. Das probieren wir jetzt aus. Denn viele meiner Kolleginnen wollen eine Unterredung, aber nicht gleich Klagen einreichen. (Helmut Ploebst, 9.4.2018)