Ein Großteil der heutigen Seen in den Alpen ist mit dem Ende der vergangenen Eiszeit entstanden. Als vor etwa 15.000 Jahren die Gletscher begannen, sich zurückzuziehen, blieben in vielen Vertiefungen Gewässeransammlungen zurück. Vom Garda- bis zum Traunsee sollten uns viele von ihnen langfristig erhalten bleiben.

Die Zunahme der Treibhaus gase in der Atmosphäre lässt den Großteil der bis heute rund um die Erde verbliebenen Eismassen weiter schrumpfen. Gerade in den Alpen werden in den nächsten Jahrzehnten die Gletscher stark dezimiert werden – und laut einschlägigen Studien zur Quelle von hunderten neuen Alpenseen werden.

Bedingt durch den Klimawandel entstehen in Grönland tausende neue Seen.
Foto: imago/Bluegreen Pictures

Ruben Sommaruga ist Leiter des Instituts für Ökologie der Universität Innsbruck und einer jener Wissenschafter, die die Entstehung neuer Seen und ihre ersten ökologischen Verwandlungen begleiten und untersuchen. Sommaruga und Kollegen beobachten – unterstützt vom Wissenschaftsfonds FWF – etwa Seen in den Stubaier Alpen, im Kaunertal oder bei St. Anton am Arlberg. Sie untersuchen, wie sich der globale Wandel auf die Seen auswirkt und wie sich Temperaturdynamik und Seeökologie in den unterschiedlichen Entwicklungsstadien der Gewässer verändern.

Neue Nahrungsnetze

Was in Mitteleuropa lokale Prozesse in hochalpinen Gegenden sind, betrifft in Grönland ganze Landstriche. Nur hier gehen die Eismassen noch schneller zurück als in den Alpen – und hinterlassen dabei tausende neue Seen. Viele von ihnen bleiben langfristig bestehen, manche durchbrechen die Moränen, die sie begrenzen, und verschwinden wieder.

Das Team von Ruben Sommaruga erforscht neue Seen in Grönland.
Foto: Ruben Sommaruga

Man findet junge Seen, die gerade die Verbindung zu dem Gletscher, der sie hervorbrachte, verloren haben, nicht weit neben bereits jahrhundertealten Gewässern. Wie die Seen nach ihrer Entstehung von Fauna und Flora besiedelt werden und wie sich neue Nahrungsnetze bilden, ist aber noch wenig erforscht.

Junge Seen

Sommaruga konnte mit einem internationalen Team im Rahmen einer Expedition nach Grönland das Wissen um die Ökologie der Seen erweitern. "Der jüngste See, den wir im Verwalltal in Tirol untersucht haben, war etwa 50 Jahre alt. In Grönland konnten wir dagegen Proben aus Seen nehmen, die nur vier Jahre alt waren", erklärt der Ökologe die Möglichkeiten der Forschung in der Arktis. Wie dynamisch die Seenbildung ist, zeigte sich dabei schon daran, dass wenige Jahre alte Satellitenaufnahmen mit der tatsächlichen Seenlandschaft vor Ort kaum noch übereinstimmten.

Streng genommen spricht man erst von einem See, wenn kein Kontakt mehr zu einem Gletscher besteht und das Gewässer frei von Eis im Uferbereich ist, erklärt Sommaruga. Davor ist das Wasser noch von der sogenannten Gletschermilch geprägt – Sedimentpartikel, die von der Gletschererosion herrühren, das Wasser trüben und gräulich oder bräunlich verfärben.

Die Forschungsstation Gossenköllesee der Universität Innsbruck liegt auf 2400 Metern Seehöhe. Ein Team rund um Ruben Sommaruga, Birgit Sattler und Karin Koinig beschäftigen sich mit den unterschiedlichsten Faktoren im See.
Universität Innsbruck

"Mikroorganismen sind die einzigen Lebewesen, die in dieser Umgebung überleben können", sagt der Ökologe. Sie stammen zum Teil vom Gletscher selbst, etwa aus sogenannten Kryokoniten – Staubansammlungen, die sich in der Sonne aufheizen, kleine Löcher in das Eis schmelzen und Kleinstorganismen einen Lebensraum geben. Andere Organismen werden durch Wind oder Vögel von See zu See verteilt.

Die ersten Algen

Verliert die Wasseransammlung nun die Verbindung zum Gletscher, sinken die Sedimente ab. Licht dringt in tiefere Schichten vor und verändert Temperatur und Energiehaushalt. Das Wasser wird türkisfarben, und die Gemeinschaft an Lebewesen verändert sich fundamental. "Die Nahrungsnetze werden komplexer", erklärt Sommaruga. "Erste Algen und multizelluläre Organismen wie Rädertierchen siedeln sich an."

In vielen Seen überall auf der Erde spielen Daphnien, Wasserflöhe, eine wichtige ökologische Rolle. Nicht so in dieser frühen Entstehungsphase der arktischen Seen: "Die Filtrierer können bei ihrer Nahrungsaufnahme nicht zwischen Algen und anderen Partikeln unterscheiden", sagt der Seenforscher. "Sie würden hier ihren Darm etwa mit mineralischen Partikeln füllen und kaum Energie aufnehmen können." Erst wenn sich das Verhältnis von Sediment- zu "essbaren" Partikeln verschiebt, haben die Daphnien eine Chance.

Wasserflohmangel

Die Wasserflöhe fehlen auch in manchen Alpenseen in Tirol, obwohl diese viel älter sind, erklärt der Ökologe. Der Grund ist aber ein ganz anderer: Kaiser Maximilian I. war begeisterter Fischer und ließ vor etwa 500 Jahren in vielen Gewässern Fische aussetzen. Das hatte nicht nur zur Folge, dass alte Saiblingsarten hier konserviert wurden, sondern auch, dass die Fische den Daphnien da und dort den Garaus machten.

Stück für Stück entwickelt sich Grönland zur Seenlandschaft.
Foto: Ruben Sommaruga

In Grönland treten an die Stelle der Wasserflöhe Tiere wie die Ruderfußkrebse, die sich besser an die harschen Umweltbedingungen anpassen und ein größeres Talent für die Selektion ihrer Nahrung haben. Erst in älteren, weitgehend transparenten Seen beginnen sich auch Fische anzusiedeln. Sommaruga konnte in Grönland bereits Exemplare bis zu einer Größe von 20 Zentimetern finden.

Schlussendlich könnte die Erderwärmung Grönland zu dem werden lassen, was im Namen schon enthalten ist: ein grünes Land – und gleichzeitig zu einer großen Seenlandschaft. In anderen Weltgegenden wird die Speicherfunktion von Eis und Schnee in Zukunft dagegen fehlen und Anpassungen durch den Menschen provozieren. Sommaruga erinnert an die Araber in Andalusien, die bereits vor 500 Jahren das Wasser der Schneeschmelze an bestimmte Orte in der Sierra Nevada geleitet haben, um es langsam versickern zu lassen – und um es nach ihrem Wiederaustritt im Sommer im Tal länger nutzen zu können. (Alois Pumhösel, 15.4.2018)