Sie ist das beste Beispiel dafür, dass eine Spießerin die Kurve kratzen kann. Die Brille galt irgendwann einmal als unliebsamer Behelf. In ihrer Gesellschaft wollte sich lange niemand blicken lassen: Die Brille wurde als Nasenfahrrad geschimpft, ihre Träger als Brillenschlangen verhöhnt, Kontaktlinsen schienen die letzte Rettung.

Sogar Marilyn Monroe teilte das Schicksal aller Brillenträgerinnen. Mit einer Cat-Eye-Brille auf der Nase verwandelte sie sich in dem Fünfzigerjahre-Schinken "How to Marry a Millionaire" in eine Frau, die mit der blonden Hollywoodschönheit wenig gemein hatte. Eine Brille? War vor einem halben Jahrhundert das Accessoire der Mauerblümchen, der Sekretärinnen und unscheinbaren Leseratten, in den Achtzigern das Accessoire der Computernerds, zehn Jahre später der Ausweis jedes selbstbewussten Kreativen. Heute ist alles anders, zum Glück.

Große Eulengläser bei Gucci.
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Eine Brille kommt nicht einmal mehr einem Abendkleid ins Gehege. Das bewies zuletzt die Schauspielerin Lupita Nyong'o. Die Amerikanerin trug während der Oscar-Verleihung zu ihrem Kleid von Versace ein hochgezogenes Gestell, Modell Katzenbrille, auf der Nase. Bemerkenswert daran war: Die Brille kam nicht aus Hollywood und nicht von irgendwo, sondern aus der Steiermark. Lupita Nyong'o setzte auf ein Modell des österreichischen Herstellers Andy Wolf.

Lupita Nyong'o und Comedian Kumail Nanjiani im März 2018 während der Verleihung der Oscars
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Die ungewöhnliche Paarung erzählt eine Menge über die Veränderungen, die der Brillenmarkt in den vergangenen Jahren durchlaufen hat. Das Unternehmen Andy Wolf hat dabei in Österreich eine Vorreiterrolle eingenommen. 2006 wurde das Label in der steirischen Kleinstadt Hartberg gegründet, mittlerweile kann man die Gestelle von Andy Wolf in mehr als 260 Geschäften in Österreich kaufen, längst wurde in die USA expandiert.

Die Schauspielerin Lupita Nyong'o schwört auf die Cat-Eye-Brille von Andy Wolf.
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Und die Konkurrenz steht in den Startlöchern. Neben den Platzhirschen Marcolin, Luxottica, Safilo, die von den Lizenzgeschäften mit internationalen Luxusmarken leben, und konventionellen Ketten wie Fielmann oder Hartlauer behaupten sich heute eine ganze Reihe solcher Nischenmarken.

Expansion in den Siebten

Die Expansionsbestrebungen der neuen Brillenhersteller kann man in Wiens siebtem Bezirk nachvollziehen. Hier reiht sich in der Neubaugasse ein Brillengeschäft an das nächste. Neben der Brillenmanufaktur auf Nummer 18 hat einige hundert Meter weiter vor zwei Jahren das Schweizer Brillengeschäft Viu die erste Filiale eröffnet. Statt über Optiker oder Optikgeschäfte vertreibt das Unternehmen die ausschließlich selbstdesignten Brillen in den eigenen Geschäften. Das entgeht der Konkurrenz nicht.

Neuester Zuwachs im Neubau-Grätzel ist das niederländische Label Ace & Tate, das vor wenigen Monaten seine Fühler nur einen Steinwurf weit entfernt nach Bobohausen ausstreckte. Ein Ende der Shop-Eröffnungen scheint nicht in Sicht.

Das Unternehmen Ace & Tate ist jetzt auch in Wien gelandet.
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Mittlerweile hat Viu einen zweiten Shop am Bauernmarkt eröffnet. Filiale Nummer zwei liegt gleich in Reichweite der Modekette Cos und des australischen Kosmetikherstellers Aesop. Das ist kein Zufall. Die hippen Newcomer sind da, wo die Zielgruppe sonst ihren Caffè Latte schlürft und die Dichte an Bugaboo-Kinderwagen hoch ist.

Mark Lange, Geschäftsführer von Ace & Tate, erklärt den Standort Neubaugasse so: "Wir sind da, wo die Atmosphäre passt." Überhaupt verfügt der siebente Wiener Gemeindebezirk über eine besondere Strahlkraft: Das Linzer Brillenunternehmen Silhouette hat seinen 2016 gegründeten modischen Ableger gleich nach Wiens Bobobezirk benannt. Brillen von Neubau Eyewear tragen seither Bilderbuch-Sänger Maurice Ernst oder Neo-Rapper Jugo Ürdens.

Die Einstellung zur Brille hat sich verändert. Ein Brillengestell ist heute wie Bauchtasche, Sneaker oder Handtasche ein hippes Accessoire, das bei Bedarf gewechselt wird. Bei Ace & Tate ist man stolz darauf, vielen Kunden zum ersten Gestell verholfen zu haben. Kein Wunder, ein Modell gibt es hier für rund hundert Euro, das entspricht in etwa dem Preis von durchschnittlichen Sneakers.

Kilian Wagner, einer der Mitbegründer des Schweizer Labels Viu, bestätigt: "Die Leute verstehen die Brille nicht mehr als medizinisches Übel." Zwar werde auch heute im Schnitt nur alle vier bis fünf Jahre ein neues Modell gekauft, doch insbesondere einer experimentierfreudigen weiblichen Klientel (65 Prozent der Kundschaft des Schweizer Unternehmens Viu sind weiblich) sei es zu verdanken, dass sich das Image der Sehhilfe verändert hat.

Gemeinsame Sache machen Viu und das dänische Label Designers Remix.
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Geschichten zum Anfassen

Nicht allen Brillenträgern reicht es heute, Markenschriftzüge von Gucci oder Armani auf der Fassung zu haben. "Unsere Zielgruppe ist designaffin, sie steht nicht nur auf große Brands, sondern will auch die Geschichte hinter einem Label verstehen", analysiert Wagner das Kaufverhalten.

Firmen wie Viu oder Andy Wolf liefern den Kunden diese Geschichten zum Anfassen: In ihren Werbevideos werden die Brillenfassungen von Mitarbeitern in Hartberg oder in Italien zurechtgeschnitten. Solche Bilderbuchwelten gefallen jenen Kunden, die ihr Dinkelbrot bei Joseph und die Salatblätter im Bioladen einsackerln, aber genauso bei Cos oder Aesop einkaufen.

Fast rahmenlos, die Modelle von Silhouette.
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Labels wie Andy Wolf oder Neubau Eyewear sind in Österreich allerdings nicht die ersten Hersteller, die die Brille als modisches Objekt verstanden. Schon in den 1980er-Jahren verschrieb sich eine Generation ambitionierter Unternehmer wie Robert Laroche der individuellen Fertigung von Gestellen.

Dass damals eine ähnliche Brillenbegeisterung wie heute herrschte, weiß in Österreich kaum einer besser als Peter Kozich. Er hat vor 38 Jahren das Brillenlabel Schau Schau gegründet, seine Modelle setzte sich damals bald auch Falco auf: "Wir waren neben Robert Laroche und Alain Mikli Trendsetter."

Aktuell sei eine Retrokollektion von Modellen aus dem Jahr 1985 ein "Wahnsinnshit", erklärt der Unternehmer. Mit ihnen eroberte Kozich damals über New York den amerikanischen Markt. Ohne ihn würde er auch heute nicht überleben – selbst wenn er von den Umsätzen in den 1980er-Jahren nur träumen kann. Anfang der 1990er-Jahre investierte der Erfinder der Marke Schau Schau in Perchtoldsdorf in eine Brillenmanufaktur.

Schwarzer Rahmen von Schau Schau.
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Hier werden seither auf rund 1000 Quadratmetern nicht nur die eigenen Brillen, sondern auch Prototypen für andere Firmen hergestellt. "Wie die Jungen von heute wollten wir schon in den Achtzigern individuell und nachhaltig arbeiten", erinnert sich Kozich.

Doch die neue Generation geht andere Wege, sie investiert zum Beispiel in den 3D-Druck. "Die Frontbreite, die Bügellänge oder die Farbe der persönlich gedruckten Brille können angepasst und danach der Name eingraviert werden", erklärt Wagner von Viu die Vorteile dieser Technik. Bei den Schweizern ist jede zehnte verkaufte optische Brille ein 3D-Modell. Auch Neubau Eyewear, der modische Ableger von Silhouette, druckt am Firmenstandort in Linz Modelle in 3D – zum Beispiel Gestelle in Marmoroptik.

Neubau Eyewear setzt auf Marmoroptik.
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Überhaupt lassen sich angesichts der vielen unterschiedlichen Modelle, Formen und Farben (Hornbrille, Cat-Eye, runder Rahmen) erahnen, dass die Kundschaft immer weniger Angst vor Experimenten hat und sich von der klassischen Hornbrille, der Lieblingsbrille der Hipster, entfernt. Beim steirischen Unternehmen Andy Wolf beobachtet Designchefin Katharina Schlager den Trend "hin zu mehr Metallrahmen".

Eine Brille von Mykita.
Foto: Mykita

Und in den Filialen des Berliner Labels Mykita (in Wien mittlerweile zweimal vertreten) geht das Modell "Studio 5.3" besonders häufig über die Ladentheke. Es sieht ein wenig wie Helmut Kohls Herrenmodell aus den 1980er-Jahren aus und wurde sanft modernisiert – ganz gemäß dem Geschmack der Millennials. (Anne Feldkamp, RONDO, 23.4.2018)

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