Sebastian Hackenschmidt wundert sich, wie wenige Gedanken sich die Menschen über ihre Sitzmöbel machen. Er selbst beschäftigt sich auch mit gesellschaftlichen Haltungen, die sich am Design von Sesseln ablesen lassen.

Foto: Nathan Murrell
Foto: Nathan Murrell

"Mit Sitzen verbinde ich zwei grundlegende Modi. Der eine betrifft die Arbeit, denn fast alle unsere Jobs sind heute Sitz-Arbeitsplätze. Der andere Zustand bezieht sich auf die Freizeit. Bei mir gilt das vor allem fürs Lesen, bei einem Großteil der Menschen wird das wohl eher fürs Fernsehen zutreffen.

Es ist erstaunlich, wie wenig Gedanken sich die meisten Menschen über die Objekte machen, auf denen sie sitzen, obwohl wir einen großen Teil unseres Lebens im Sitzen verbringen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass Stühle Hilfsmittel, Werkzeuge, irgendwie auch Prothesen sind, die uns über bestimmte Sitzordnungen auch in eine gesellschaftliche Hierarchie einfügen.

Die Dinge, die wir beim Sitzen tun, nehmen natürlich einen ungleich größeren Raum in unserem Kopf ein als das Sitzen selbst. Das war immer schon so, und nicht wenige Philosophen haben sich damit beschäftigt. Der amerikanische Kunstkritiker Peter Schjeldahl hat einmal gesagt: "Die Ironie des Stuhls ist folgende: Man kann ihn nicht gleichzeitig gebrauchen und anschauen."

Dabei lassen sich viele Sessel besser anschauen und eignen sich nur bedingt zum Gebrauch. Das gilt etwa für einige Klassiker der Moderne, Stücke vom Bauhaus oder der Wiener Werkstätte, ebenso wie für manche Objekte des Radical Design oder der Postmoderne. Die sind zwar sehr elegant oder kommen sehr bedeutend daher, in Sachen Bequemlichkeit lassen sie aber oft zu wünschen übrig. Fragen zum Thema Körperhaltung haben beim Gestalten von Sesseln noch immer einen schlechten Ruf. Die meisten Designer stellen ihre eigene subjektive Formgebung, ihren Gestaltungswillen über die Erkenntnisse der Ergonomie.

Prestigeobjekt

Der Sessel ist in der Möbel- und Designwelt eine Art Leitmedium, weil er sehr viel zum Ausdruck bringen kann. Sessel sind Prototypen des Denkens, an denen sich gesellschaftliche Haltungen ablesen lassen. Mit Haltung meine ich auch die Frage "Wie bin ich drauf?". Das kann durchaus durch die Art des Sitzens ausgedrückt werden. Wenn ich zum Beispiel meine Beine auf den Schreibtisch lege und mich zurücklehne, bin ich eher der lässige, entspannte Typ. Das geht aber nicht unter allen Umständen und ist oft fehl am Platz. Aber schauen Sie sich Ihre Freunde und Kollegen an, was für Möbel sie haben, wie sie dasitzen, wie sie sich präsentieren, welche Haltung sie zum Ausdruck bringen wollen ...

Natürlich ist Prestige noch immer ein wichtiges Thema. Das lässt sich in jedem Büro sehen. An den Stufen der Bequemlichkeit, der Polsterung von Sitz, Rücken- und Armlehnen und an der mechanischen Verstellbarkeit bei den Bürosesseln kann man Hierarchien im Unternehmen ablesen. Das war während des Barocks bei Hofe auch schon so ähnlich. Das Versinken in der Bequemlichkeit ließe sich als eine Form des Thronens beschreiben. Und der Inbegriff des bürgerlichen Throns ist dann wohl der opulente Fauteuil vor dem Fernseher.

Auch wenn ich beruflich mit hunderten, wenn nicht tausenden Möbelstücken zu tun habe, kann ich nicht sagen, welchen Stuhl ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Wahrscheinlich würde ich dort dann doch lieber am Strand abhängen und mir ein Stück als Gegenüber aussuchen, nicht zum Gebrauch, sondern zum Anschauen. Vielleicht den Freischwinger MR 10 von Mies van der Rohe, den ich in seiner Eleganz unübertroffen finde. Ich mag aber auch gerne Affronts gegen den guten Geschmack und das Repräsentative, also vielleicht eine Formlosigkeit von Gaetano Pesce oder von Jerszy Seymour. Ich würde mir wünschen, dass die Möbel ein subversives Potenzial in sich bergen." (Michael Hausenblas, RONDO, 13.4.2018)