Wien – Im Rahmen der Gesamtausgabe seiner historischen Bestände von 1899 bis 1950 hat das Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) mit "Displaced Voices" eine neue digitalisierte Publikation fertiggestellt. Auf fünf CDs sind Gesänge russischer Kriegsgefangener im Ersten Weltkriegs samt Kommentaren und Transkriptionen zu finden.

Einzigartige Aufnahmen

Als "besonderen Schatz" bezeichnete der Leiter des Phonogrammarchivs, Helmut Kowar, die 1915 und 1916 in mehreren k.u.k-Kriegsgefangenenlagern entstandenen Tondokumente. "Zu hören ist eine unglaubliche Vielfalt von unterschiedlichen Sprachen", sagt Kowar. Bei einem Teil der Lieder handle es sich um die ersten Aufnahmen überhaupt.

Der Leiter des Phonogrammarchivs betont aber die tragischen Umstände der Entstehung der Aufnahmen: "Die Dokumente sind in einer Situation von Macht und Unterdrückung entstanden" und müssten deshalb auch kritisch hinterfragt werden, räumt er ein. "Wie tragisch die Umstände der Internierung waren, kommt auch in dem heraus, was sie singen und sagen", wies Kowar auf die zusätzliche wissenschaftliche Bedeutung der Tondokumente hinsichtlich der Situation in den Lagern hin.

Umstrittener Urheber

Urheber der Tonaufnahmen ist der zu seiner Zeit angesehene, heute ob seiner Methoden umstrittene österreichische Arzt und erste Vorstand des Instituts für Anthropologie an der Universität Wien, Rudolf Pöch (1870-1921). Als Pionier der audio-visuellen Feldforschung zeichnete er nicht nur die Sprache und Gesänge der Gefangenen aus dem zaristischen Russland auf, sondern untersuchte rund 5.000 von ihnen auch für seine "Rassenkunde".

Pöch vermaß ihre Köpfe und fertigte Gipsabdrücke von Kopf, Füßen und Händen an, viele Gefangene wurden nackt fotografiert. In den archivierten "Messblättern" sind außerdem der allgemeine Gesundheitszustand, Krankheiten, Sprache, Religion, Bildung und sogar Rechts- oder Linkshändigkeit vermerkt.

Die fünf CDs der Publikation "Displaced Voices" beschreibt Kowar als umfassend kommentierte Quellenausgabe, die so aufbereitet sei, dass "Wissenschafter, aber auch das interessierte Publikum damit etwas anfangen bzw. weiterarbeiten kann". Neben der rund 200 Aufnahmen mit den Stimmen der Kriegsgefangenen aus dem damaligen zaristischen Russland seien sämtliche vorhandenen Transkriptionen sowie historische und – soweit vorhanden – biografische Details der Aufgenommenen in der Publikation enthalten. (APA, red, 12. 4. 2018)