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Krebsgenen auf der Spur: Mit einer neuen Technologie lassen sich Prozesse in der Zelle so detailliert beobachten wie nie zuvor.

Foto: Picturedesk / Science Photo Library

Ziemlich genau 15 Jahre ist es mittlerweile her, dass Genetiker das Erbgut des Menschen sequenziert haben. Angesichts all der genetischen Daten, die seitdem angehäuft wurden, könnte man erwarten, dass der menschliche Körper längst ein gläserner ist: durchleuchtet bis ins molekulare Detail. Doch das ist nicht der Fall.

Warum sich eine Zelle zum Neuron und eine andere zur Blutzelle entwickelt, ist bis heute nicht hinreichend verstanden. Das liegt vor allem daran, dass die DNA im Grunde bloß das "Backup" genetischer Information ist, eine Bibliothek, die erst dann Wirkung entfaltet, wenn sie auch gelesen wird. Ihre Identität erhalten Zellen erst durch das Ein- und Abschalten von Genen. "Einschalten" bedeutet: Das Gen wird in RNA übersetzt und in weiterer Folge in ein Protein. Erst wenn das geschehen ist, werden all die Signalwege aktiv, die Zellen zu dem machen, was sie sind. Dieser Vorgang, sagt Johannes Zuber vom Wiener Institut für Molekulare Pathologie (IMP), "ist die Essenz des Lebens".

Zuber hat kürzlich mit seinem Kollegen Stefan Ameres vom Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) eine neue Methode vorgestellt, mit der man die Entwicklung der Zellidentität erstmals nachvollziehen kann. Die neue Technologie namens Slam-Seq bestimmt anhand der RNA-Profile detailgetreu, welche Gene aktiv sind. Darüber wachen in gesunden Zellen sogenannte Regulatorgene. Ihre Aufgabe ist es, das Konzert der anderen Gene zu dirigieren. Fehlt diese Kontrolle, läuft die Sache schnell aus dem Ruder. Zu beobachten ist das etwa an Krebszellen: Dort sind die Dirigenten des Erbguts häufig mutiert – die aus der Medizin bekannten Krebsgene sind in den meisten Fällen Regulatorgene.

Das Chaos im Tumor

Unklar war bisher, warum dann so schnell Chaos ausbricht und der Tumor unkontrolliert zu wachsen beginnt. "Was regulieren diese Gene wirklich? Diese Frage konnte die Wissenschaft bisher nicht beantworten", sagt Zuber. Das lag freilich nicht am fehlenden Interesse der Molekularbiologen. Es fehlte schlichtweg an den geeigneten Methoden. Diese Lücke füllt nun Slam-Seq: Mithilfe der neuen Technologie – sie wurde von Ameres entwickelt, wurde bereits im Vorjahr im Fachblatt Nature Methods präsentiert und ist für den hochdotierten Houskapreis 2018 nominiert – können die Forscher den Regulatorgenen zusehen, wo und wann sie die Übersetzung von DNA in RNA steuern. Im gesunden Zustand ebenso wie bei kranken und sterbenden Zellen. Nach der Revolution der Gensequenzierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts tritt die Molekularbiologie nun in eine neue Ära: Das regulatorische Netzwerk der Gene wird sichtbar.

Wie das geht, haben Ameres und Zuber kürzlich im Fachblatt Science vorgezeigt. Für ihre Studie hatten die Forscher zwei prominente Krebsgene, MYC und BRD4, unter die Lupe genommen und nachgewiesen, wie weit der Einfluss der beiden Regulatoren tatsächlich reicht. Das Resultat war überraschend. Entgegen bisheriger Vermutungen aktiviert MYC nur etwa 500 Gene, vor allem solche, die mit grundlegenden Aufgaben des Zellhaushalts betraut sind. Das ist der Grund dafür, dass Mutationen in MYC so gefährlich sind: Sind DNA- oder Eiweißsynthese überaktiv, ist der Weg zur Entartung der Zelle nicht mehr weit.

Anders das Ergebnis bei BRD4: Dieser Regulator wirkt in einem höheren Stockwerk der genetischen Hierarchie und eignet sich viel besser als Ansatzstelle für Krebsmedikamente. Letzteres war zwar schon früher bekannt, nur verstehen die Forscher jetzt auch, warum das so ist. Und sie können mithilfe der RNA-Profile bestimmen, welche Wirkstoffkombinationen Krebszellen töten und die gesunden Zellen am Leben lassen – ein Ansatz, der auch bei ganz anderen Medikamententypen, etwa aus dem Immun- und Hormonbereich, neue Einsichten bringen könnte. Slam-Seq sei daher für zwei ganz unterschiedliche Gebiete interessant, sagt Stefan Ameres, für die Grundlagenforschung ebenso wie für die klinische Medizin: "Das Feedback ist sehr positiv."

Zufallsbekanntschaft

Zuspruch gab es auch hierzulande. Der Pharmakonzern Boehringer-Ingelheim, Shareholder des IMP, verwendet die Methode bei der Untersuchung von Wirkstoffen in den hauseigenen Labors. Und die in Gehweite von IMP und IMBA angesiedelte Firma Lexogen hat die Methode bereits zu einem Laborkit weiterentwickelt, der sich seit letztem Jahr auf dem Markt befindet.

Kennengelernt haben einander Ameres und Zuber vor Jahren in den USA, in einer Bar auf dem Campus des Cold Spring Harbor Laboratory. Damals standen die beiden noch ganz am Beginn ihrer Karriere, der eine als RNA-Biologe, der andere als Krebsforscher. Zuber war der Erste, der in Wien die Leitung einer Forschungsgruppe übernahm. Als am nebenan gelegenen IMBA ein RNA-Spezialist gesucht wurde, riet Zuber seinem ehemaligen Postdoc-Kollegen: "Bewirb dich doch!" Ameres tat es – und kehrte wider Erwarten an jenen Ort zurück, wo er einst seinen Doktor gemacht hatte.

Dass aus der Erfindung im Labor so schnell ein marktfähiges Produkt geworden ist, zeigt jedenfalls: Der Forschungscluster rund um das Vienna Biocenter hat bereits jene kritische Masse erreicht, die für hochkarätige Wissenschaft jenseits disziplinärer Grenzen notwendig ist. So breit aufgestellt wie der Großraum Boston ist Wien zwar noch nicht, aber in ausgewählten Bereichen mischt man durchaus an der Weltspitze mit. "Momentan haben wir gegenüber der internationalen Konkurrenz einen Vorsprung", sagt Ameres. "Und den müssen wir nützen." Der Vorsprung könnte nicht zuletzt auch finanziell einträglich sein. Die Slam-Seq-Technologie wurde bereits in Europa und Amerika als Patent angemeldet. (Robert Czepel, 14.4.2018)