Warum müssen Ganzheitsdenker oft schwere Geschütze der Ver- und Gebote auffahren und warum müssen Wissenschaftsgläubige jedwedes ganzheitliche Denken immer noch belächeln?

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Einen Kommentar über ganzheitliches, alternatives Denken? Da ahnt die Autorin schon vor Schreibbeginn ihren Sturz in intellektuelle Nesseln. Ganzheitliches Denken rührt an, das schon. Körper, Geist und Seele – sicher, wir sollten etwas für unseren Körper tun (vielleicht Yoga?) oder uns besser ernähren (vielleicht vegan?), aber darüber hinaus wenden sich intellektuelle Zeitgenossen gerne wieder ihrer scheinbar gesicherten Wissenschaftswelt zu. Ich frage mich, warum ist das so? Warum ist es so schwierig, ruhige, sachliche Diskussionen über die Vor- und Nachteile ganzheitlichen, beziehungsweise alternativen Gedankenguts zu führen? In wissenschaftlichen Forschungsfeldern ist beinah nichts so verpönt wie das schlichte Wort "ganzheitlich". Es vermittelt Unwissenschaftlichkeit, noch bevor man den die Gedankengänge zu Ende bringen kann.

Vielleicht liegt einer der Kernpunkte dieser Ablehnung in der leider oft anzutreffenden Vagheit der Begrifflichkeit ("Körper, Geist und Seele ... und so ...") . Gegenwärtig sind Ganzheitlichkeit und Holismus gängige, jedoch völlig vage Begriffe. Ob Ernährungslehre, Gesundheitsberatung, ob alternative Behandlungsmethoden oder ökologische Bewegungen – unendlich viele Konzepte beanspruchen scheinbar ganz selbstverständlich seriöse Ganzheitlichkeit – und verlieren sich dabei nicht selten in Unbestimmtheit, Dogmatik oder Esoterik.

Kaum wertfreie Annäherung

Und noch eine interessante Tatsache fällt ins Auge: Wenn sich Menschen leidenschaftlich einer ganzheitlich-alternativen Denkweise verschreiben, dann gern mit maßregelnder Akribie. Ob zurück zur Natur, völlige Ablehnung naturwissenschaftlichen Könnens (Esoterik ohne Maß) oder rigoroser Verzicht auf schulmedizinische Vorsorge, so mancher Ganzheitsverteidiger verneint gleich vorab vieles was Fortschritt bieten kann – und das ziemlich unlustig und unentspannt. Die Diskussion zwischen analytischen, klassisch-logischen Naturwissenschaftsgläubigen und scheinbar gutgläubigen Ganzheitsdenkern verläuft gerne unangemessen emotional und endet nicht selten in Kopfschütteln.

Aber warum müssen Ganzheitsdenker oft schwere Geschütze der Ver- und Gebote auffahren und warum müssen Wissenschaftsgläubige jedwedes ganzheitliche Denken immer noch belächeln? Warum ist für die einen alles was Natur ist zu bejahen und sind für die anderen Ganzheitsdenker homöopathische Spinner, die an Hokuspokus glauben (na ja wenn es ihnen hilft?). Eine eher wertfreie Annäherung ist leider spärliche Realität.

Ein alter Streit

Ein Blick auf die Spuren ganzheitlichen Denkens unserer philosophischen Kulturgeschichte bringt ein wenig Helligkeit ins Dunkel dieser Diskurse. Denn der Streit ist alt. Ganzheitliches Denken gegen klassische Naturwissenschaft, die Heftigkeit dieser Fehde ist ein Teil unserer Geschichte.

Ganzheitlichkeit in den frühesten Tagen unserer abendländischen Menschengeschichte meint mitnichten einfach Ganzheitlichkeit – so einfach haben es sich Philosophen noch nie gemacht. Das "Ganze der Natur" wurde je nach Kontext und Interessenslage sehr unterschiedlich beschrieben, woraus sich völlig verschiedene Zugänge zu Natur, Welt, Leben, entwickelten. In, wenngleich unterschiedlichster Deutung, begegnet man den Naturkonzepten vorsokratischer Philosophie, dem streibaren Querkopf Giordano Bruno, einem besonnenen Spinoza und so manchem anderen mutigen Renaissancedenker. Schließlich spielt auch ein Kant der späten Tage eine nicht unwesentliche Rolle, entzündet er doch die aufwendigen Konzepte Schellings, die beinahe einen Schlussstrich unter den ganzheitlichen Naturversuch setzen. Und tatsächlich scheint das Ganze der Welt ab dem Siegeszug klassischer Naturwissenschaften unaufhaltsam zerbrochen, was die Verlustklagen melancholischer Romantiker (zum Beispiel Novalis) gut widerspiegeln. Die wissenschaftlichen und philosophischen Forschungslinien Descartes, Kants und Newtons besiegeln objektiviertes, klassisch naturwissenschaftliches Denken.

Die Welt neu denken

Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts betreten innovative Biologen, Mediziner und Psychologen die Forschungsbühne und beginnen über Natur und Leben völlig neu nachzudenken. An kriegsgeschädigten Soldaten des Ersten Weltkriegs konnte man beobachten, dass nach Hirnschädigungen oft andere Teile des Gehirns die spezifischen (ausgefallenen) Funktionen übernehmen. Newtons Physik war zum Verständnis dieser hoch komplexen Phänomene völlig unzureichend. Für den Mediziner Kurt Goldstein war klar, dass man hier auf erstaunliche Phänomene gestoßen war, deren Erforschung gerade erst begonnen hatte. Der Biologe Hans Driesch konnte nachweisen, dass eine der Grundfunktionen organischen Lebens seine erstaunliche Reproduktionsfähigkeit ist und entwarf seine vitalistische Biologie. Der englische Physiologe John Haldane sprach von Einheiten und Ganzheiten in der Natur und Jacob von Uexkuell erkannte schließlich, dass Organismen keine isolierten Einzelobjekte sein können, sondern nur mitsamt Einbettung in umgebende Natur existieren und daher auch nur als Organismus plus Umwelt beforscht werden können. Sein Sohn Thure übertrug diesen Gedanken auf den Menschen als soziales Wesen und erfand wenig später eine psychosomatische Medizin.

Bald war klar, dass sich organisches Leben doch nicht so einfach mit rein kausalen Funktionen und klassisch newtonscher Naturwissenschaft erklären lässt. Innovative Forscher wie Max Wertheimer, Kurt Goldstein, Hans Driesch und John Haldane versuchten mit ihren Forschungen schlicht und einfach die Allmacht mechanistischer Dogmen zu brechen und die Welt erfrischend neu zu denken.

Dieses nüchterne Unterfangen war jedoch für nicht wenige Forscher zu schlicht, zu bescheiden. Innerhalb naturphilosophischer Forschungsspur begegnet man ganzheitlichen Denkern wie Jan Christian Smuts, Adolf Meyer Abich und auch Jacob von Uexkuell, die ihre Forschungsergebnisse zu erklärten Oppositionslinien entgegen funktionalen Naturwissenschaften formten. Für diese Herren stand nicht weniger als die Rettung der Welt vor scheinbar rein mechanistischen, und vor allem gottloser Wissenschaft auf dem Plan. Mechanistisch-naturwissenschaftliche Forschung war für sie nicht nur ein wissenschaftliches Erklärungsmodell, das möglicherweise an seine Grenzen gekommen war, sondern eine gottlose Wissenschaft ohne Seele, eine Wissenschaft entgöttlichter Natur, eine naturalistische Fehlentwicklung. Diese Herren befürchteten den Verfall des Abendlandes, den Verlust platonisch-christlicher Weltbilder, die völlige Entseelung der Welt, die keinen Gott mehr für letztgültige Erklärbarkeiten braucht. Die philosophischen Spuren Smuts und Abichs führen bis in die Abgründe nationalsozialistischen Denkens, was bis heute wenig aufgearbeitet anmutet.

Und heute?

An dieser Tendenz Gegenstandpunkte zu entwerfen, hat sich in den verschiedensten Diskursen bis heute leider viel zu wenig verändert. Abgesehen von physikalischer Naturforschung, die in ihrer Kompliziertheit den einfachen Usern zumeist ein wenig abstrakt bleiben wird – wer will schon mit Raumzeit-Materie Gehirnakrobatik betreiben – und abgesehen von Einzelkämpfern konsequent holistisch-ökologischer Bewegungen machen Verfechter ganzheitlicher Systeme gerne den gleichen Fehler, den sie einer vermeintlich klassischen Naturwissenschaft gerne vorwerfen: sie verstricken sich in immer noch wahreren Wahrheiten.

Eine der Schlussfolgerungen aus diesen Geschichtsspuren ist, dass die dunkle Seite (klassischer) natur- und biowissenschaftlicher als auch ganzheitlicher Denkmodelle die Versuchung ist, absolute Systeme zu produzieren (siehe naturwissenschaftliche Hardliner gegen dogmatisch-esoterische Lehren). Leider hat sich an dieser fraglichen Tatsache bis heute wenig verändern. Das Absolute, das Wahre, das eine Richtige setzt sich gern als Schlussstrich, als Punkt, als ein de facto unter Konzepte und Wirklichkeitsbeschreibungen. Die größte Denkfalle jedes, wenn auch noch so interessanten Konzepts ist seine Abgeschlossenheit (zu anderen Wirklichkeitsbeschreibungen) und seine Abgrenzung (nach außen). Die Sucht, noch so kleinste Kleinheiten des Systems (Leben, Natur, Kosmos) absolut und vollständig erkennen zu können, ist Krankheit und menschliche Hybris wohl seit Anbeginn philosophischen Denkens.

Der Irrtum eines Begriffs

Es wäre an der Zeit, ein Stück weiter zu gehen. Die Diskussion, ob es denn besser wäre nun ganzheitlichen Konzepten den Vorzug zu geben, oder doch besser, klassischer Wissenschaftlichkeit zu vertrauen, ist ermüdend und wenig zielführend. Ob in Ökologie, Medizin, technischer Forschung oder auch in Geisteswissenschaften, langsam sollte doch Gemeingut sein, dass klassische Wissenschaftswelten keine untermauerten Festungen mehr sind, noch dass ganzheitliche Konzepte per se die versicherte Inklusion aller zu berücksichtigender Faktoren sein können.

"Die Philosophie des Absoluten abzubauen, heißt Vertrauen zu haben in die Natur und auch in sich selbst als Naturwesen", schreibt William James zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1914). James, amerikanischer Philosoph und wesentlicher Mitbegründer philosophischen Pragmatismus, wirkt ungefähr zur gleichen Zeit, als sich ganzheitliches Denken in Biologie und Naturphilosophie wieder etablieren konnte (Driesch, Haldane). Er beharrte auf einer Sicht der Welt, die zur Kenntnis nimmt, dass die Gesamtsumme aller Dinge niemals als Ganzes zu haben ist (auf keiner der beiden Seiten). Selber bezeichnet er sich lieber als Pluralist, als jemand, der Verschiedenartigkeiten (ein sowohl als auch) gültiger Erkenntnisse ertragen will und kann, was im klassisch bekannten Holismus nicht als gesichert gilt. "Indem der Pluralismus das Absolute verbannt, vernichtet er die furchtbare Macht des Absoluten, er befreit das menschliche Wesen von der Wirklichkeit einer ihm innewohnenden Fremdartigkeit!"

Die Erkenntnis, dass Welt, Leben, Natur sich niemals als ein Ganzes präsentieren werden, so James, ist daher weiter nicht schlimm. Beschreibungen einer solch bruchstückhaften Wirklichkeit sind aber wenig harmonisch und elegant, ergo weniger publikumswirksam. Wer mag schon an Vernetzung und Verflechtung denken, ohne ein Ganzes drum herum zu ziehen? Nicht nur für unsere kritischen Ganzheitsdenker am Weg (Bruno, Spinoza, Naess), nicht nur für moderne Physik, sondern auch für jede holistisch denkende Philosophin ist ein offener Holismus schwer unter die Leute zu bringen – weil komplex und ungreifbar.

Ernsthafter Austausch

Die Frage, ob für oder gegen ganzheitliches Denken, ob für oder doch lieber gegen klassische Naturwissenschaft könnte obsolet sein, da mittlerweile offensichtlich völlig unklar ist, was mit diesen Definitionen denn beiderseits gemeint ist. Vielleicht geht es vielmehr um eine Versöhnung verschiedener Sichtweisen, die allesamt niemals alleine dieses Alles-was-ist beschreiben können.

Ein wissenschaftlicher Austausch, der berücksichtigt, dass sich alternative (ganzheitliche) Konzepte und klassische wissenschaftliche Forschung möglicherweise verschiedener Logiksysteme bedienen, wäre wünschenswert. Wir sollten gelernt haben, dass Welt sich immer in mehren Wahrheiten zugleich zeigt. In Gesundheitssystemen würde das beispielsweise bedeuten, dass man akzeptieren lernt, dass alternative heilkundliche Lehren andere Logikhintergründe als Basis haben. Sich denselben zuzuwenden, gelingt nur unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes, der jeweiligen empirischen Erfahrung und des jeweiligen Wissenssystems mitsamt seinen, wenngleich fremden, Instrumentarien. Bedenkt man das Kriterium dieser pluralistischen Option, so ist die Chance eines ernsthaften Austausches zumindest eine Möglichkeit.

Mediation – eine Option?

Auch auf der Seite ganzheitlicher Denker ist es letztlich gar nicht befriedigend – oder nur kurzfristig –, klassisch empirischer Naturwissenschaftlichkeit den Spiegel vorzuhalten, über deren alte und neue Irrtümer zu triumphieren, um anschließend einen richtigeren Weg einzuschlagen, eine wahrere Wahrheit verteidigen zu müssen (inklusive aller Ausgrenzungsmechanismen). Auf der anderen Seite, nämlich klassischer Naturwissenschaften, muten gerade wieder einmal aktuelle Diskussionen gegen transkulturelle Medizinsysteme (die man im Bausch und Bogen verdammen muss) und gegen (wieder einmal) die gute alte Homöopathie fast schon paranoiaartig an.

Ernstzunehmende Wissenschaftlichkeit könnte sich auf die Suche nach gemeinsamen wissenschaftlichen (auch ethischen) Verbindlichkeiten machen und vermeintliche Gegner mit ins Boot holen. Dabei gilt es zum einen die Brüchigkeit klassischer natur- und geisteswissenschaftlicher Instrumentarien und Argumentationsmittel zur Kenntnis nehmen und zum anderen absolutistische Ansprüche ganzheitlichen Denkens unter sokratische Überwachung zu stellen. (Alexandra Gusetti, 12.4.2018)