Auch Staatsanwälte und Richter werden durch gesellschaftlich und medial gefestigte Vorstellungen von sexualisierter Gewalt beeinflusst – Vergewaltigungsmythen wirken daher auch in der Justiz.

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Schon wieder wird versucht, einer Debatte über sexualisierte Gewalt durch Bagatellisierung und Victim-Blaming die Berechtigung zu entziehen. Frauen, die weltweit ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen unter dem Hashtag #MeToo teilen, wird vorgeworfen, Falschanschuldigungen zu erheben, sich "in die Opferrolle zu begeben" oder hysterisch und aufmerksamkeitsbedürftig zu sein. All diesen Vorwürfen ist immanent, den Opfern ihre Glaubwürdigkeit abzusprechen, den Fokus auf vermeintliche Pflichten der Opfer anstatt auf die Schuld der Täter zu legen und die Taten an sich zu banalisieren. Kurzum: Altbekannte Vergewaltigungsmythen und Vorurteile werden aufgewärmt.

Fokus auf das Opfer

Der Situation der Opfer, die häufig von Angst vor der Konfrontation mit dem Täter oder vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, von Scham, Verunsicherung oder Verdrängung betroffen sind, wird im öffentlichen Diskurs mit wenig Empathie begegnet. Fragen wie "Warum hat sie keine klare Grenze gezogen?", "Warum hat sie den Arbeitsplatz nach dem Übergriff nicht gewechselt?", "Weshalb erhebt sie die Anschuldigungen erst Jahre später?" sind zum festen Bestandteil der durch #MeToo thematisierten Debatte geworden. Dies kommt nicht nur einer Verhöhnung der Opfer und Bagatellisierung der Taten, sondern letztlich einer Täter-Opfer-Umkehr gleich. Das Opfer wird zum Subjekt gemacht, während der Täter in die Unsichtbarkeit verschwinden kann.

Parallelen in strafgerichtlichen Verfahren

Das Phänomen der Verlagerung des Fokus auf das Opfer lässt sich auch in strafgerichtlichen Verfahren beobachten. Hier stellt das Opfer als Zeugin ein Beweismittel dar, das seine Aussage nicht durch objektivierte Beweise stützen muss. Obwohl der Gesetzgeber dem Opfer also keine Beweislast auferlegt, wird die Verantwortung über den Verfahrensausgang in der Praxis oftmals auf das Opfer überwälzt.

In den Begründungen der meist gemäß § 190 Z 2 StPO erfolgenden Einstellungen der Verfahren durch die Staatsanwaltschaft lesen sich regelmäßig Formulierungen wie "Das Opfer konnte weder Zeugen nennen noch Verletzungsnachweise vorlegen" oder "Die Angaben der Anzeigerin hielten einer lebensnahen Betrachtungsweise nicht stand". Durch eine derartige Diktion wird dem Opfer vermittelt, es hätte anders vorgehen, etwa früher Anzeige erstatten, mehr Beweise vorlegen oder sich anders präsentieren müssen. Vom Opfer wird ein hohes Maß an strukturiertem, in dieser Form nicht erfüllbarem Vorgehen erwartet, was im Grunde auf einen unsicheren Wissensstand des Justizpersonals hinsichtlich posttraumatischer Belastungsstörungen, Dissoziation und Gewaltdynamiken bei Partnergewalt hindeutet.

Mythen und Stereotype

Angesichts einer Einstellungsrate von 51,5 und einer Anklagerate von nur rund zehn Prozent bei Vergewaltigungen gemäß § 201 StGB kann der Beschuldigte einem strafgerichtlichen Ermittlungsverfahren unter Berufung auf sein Aussageverweigerungsrecht oftmals gänzlich ohne Konfrontation mit den Anschuldigungen entgehen, während das Opfer in mehrfachen, oft stundenlangen Vernehmungen penibelst befragt und hinsichtlich des Vorliegens mutmaßlicher Motive (Vergeltung, Rache, Vorteile im Scheidungs-/Pflegschaftsverfahren) auf den Prüfstand gestellt wird.

Ebenso besteht die Gefahr, dass das Opfer selbst als Beschuldigte wegen des Verdachts auf Verleumdung und/oder falscher Beweisaussage ins Visier der Strafjustiz gerät oder vom Täter zivilrechtlich belangt wird. Hierbei ist wichtig festzuhalten, dass ein Absehen von der weiteren Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft nicht zwangsläufig bedeutet, dass das Opfer den Täter fälschlich einer Straftat bezichtigt hat. Vielmehr können Mythen und Stereotype, unzureichende Berücksichtigung der Auswirkungen von Traumata auf die Psyche der Opfer sowie mangelnde Kenntnis der Komplexität der Täter-Opfer-Dynamik dazu führen, dass dem Opfer kein Glaube geschenkt wird. Zudem kann es sein, dass das Opfer das ungewollte Verhalten des Täters als sexuellen Übergriff empfindet, während die Justiz den Sachverhalt rechtlich anders qualifiziert und eine Tatbestandserfüllug nach Abschluss der Ermittlungen verneint. Hieraus dürfen dem Opfer keine Nachteile erwachsen.

Medial gefestigte Vorstellungen

Dass Vergewaltigungsmythen auch in der Justiz wirken, lässt sich dadurch erklären, dass natürlich auch Staatsanwälte und Richter durch gesellschaftlich und medial gefestigte Vorstellungen von sexualisierter Gewalt beeinflusst werden. Vor diesem Hintergrund ist eine reflektierte und sensibilisierte mediale Berichterstattung über die #MeToo-Bewegung von besonderer Bedeutung.

Die hohe Einstellungsrate von Sexualdelikten könnte zur Folge haben, dass Opfer vor einer Anzeigeerstattung zurückschrecken, was ein Mitgrund für den beobachteten Rückgang von Anzeigen in den letzten Jahren sein könnte. Gleichzeitig führen die Anzeigenhemmnis und die hohe Einstellungsquote zu dem verzerrten Bild, dass die Gefahr, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden, gering ist. Dies wirkt sich letztlich negativ auf den politischen Willen aus, die Situation für Opfer zu verbessern. Es bleibt zu hoffen, dass die #MeToo-Bewegung das Problembewusstsein geschärft hat und zu entsprechenden Maßnahmen, wie den nachstehenden, führen wird.

Wirksame Strafverfolgung fördert Vertrauen in die Justiz

Laut der Rechtsphilosophin Elisabeth Holzleithner spielen vergangene Erlebnisse "mit dem Recht, seinen Institutionen und Repräsentanten" eine entscheidende Rolle dabei, "ob das Recht als Mittel der Wahl im Vorgehen gegen Übergriffe erscheint". Wenn ein Opfer erwarten darf, dass ihm Glaube geschenkt wird und die Strafverfolgungsbehörden alles unternehmen, um den Täter zur Rechenschaft zu ziehen, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass es sich an die Strafjustiz wendet.

Zur wirksamen Ermittlung und Strafverfolgung hat sich Österreich spätestens mit der Ratifizierung der Istanbul-Konvention (Art. 49 Abs. 2) im Jahre 2013 verpflichtet. Bereits zehn Jahre zuvor hat der EGMR in der Rechtssache M.C. gegen Bulgarien festgehalten, dass bei Ermittlungen wegen Vergewaltigung auch die Aussage des Beschuldigten auf ihre Plausibilität zu untersuchen, möglichen Widersprüchen nachzugehen ist und die Ermittlungen nicht auf unmittelbare Beweise zu beschränken sind, sondern auch die Begleitumstände ausreichend zu ermitteln und psychologische Faktoren zu berücksichtigen sind.

Sensibilisierungsmaßnahmen notwendig

Um das Opfer für die Beschreitung des Rechtswegs zu gewinnen, bedarf es weiters einer bewusstseinsbildenden Öffentlichkeitsarbeit, opferschutzorientierter Täterarbeit sowie nicht zuletzt Sensibilisierungsmaßnahmen für Staatsanwälte und Richter für die Themen häusliche und sexualisierte Gewalt im Rahmen ihrer Aus- und Fortbildung. Ebenso wird in der derzeitigen Ausbildung der Richteramtsanwärter noch kein ausreichender Schwerpunkt auf die forensische Beweislehre und Aussageanalyse gesetzt.

Im Rahmen der Studie von Melcher/Amann, in der Studierende der Rechtswissenschaften und der Psychologie Aussagen auf ihre Glaubhaftigkeit hin beurteilen mussten, identifizierten die Psychologie-Probanden, die zuvor ein Training mit praktischen Übungen besuchten, 85 Prozent der Aussagen korrekt, während die Trefferquote der Jus-Probanden, die keine Vorkenntnisse auf dem Gebiet der Aussagenpsychologie mitbrachten, bei lediglich 64 Prozent, sohin nur "geringfügig über der Rate der Zufallstreffer", lag. Da die Beurteilung des Wahrheitsgehalts einer Zeugenaussage grundsätzlich der freien richterlichen Beweiswürdigung unterliegt und nur in Ausnahmefällen einem Sachverständigen übertragen werden kann, wäre eine zweckentsprechende psychologische Ausbildung der Richteramtsanwärter wesentlich, um Fehlinterpretationen bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Aussagen (gerade wenn das Opfer traumatisiert ist) zu vermeiden und die gängige Erwartungshaltung, wie sich ein "perfektes" Opfer zu verhalten hat, aufzubrechen.

Die Folgen von #MeToo

Zwar ist noch nicht absehbar, ob #MeToo Auswirkungen auf die Strafverfolgung von Sexualdelikten in Österreich haben wird. Je mehr Fälle sexualisierter Gewalt öffentlich werden, desto schwieriger wird es aber jedenfalls, die gesellschaftlichen Mechanismen des Bagatellisierens aufrechtzuerhalten. Wenngleich sich die Vergewaltigungsmythen hartnäckig halten, beginnen die Debatten nicht immer wieder bei null. Vielmehr fördert die öffentliche Auseinandersetzung die breitenwirksame Erkenntnis, dass sexualisierte Gewalt ein strukturelles Problem ist und sich immer wieder nach denselben Mustern wiederholt. Es bleibt zu hoffen, dass diese Erkenntnis zumindest zur Steigerung der Anzeigebereitschaft beiträgt und zu einem sensibilisierteren Umgang mit Opfern seitens der Justiz führt. (Sonja Aziz, 18.4.2018)