Perugia – Europa ist fad. Das ist Konsens selbst am Panel beim Internationalen Journalismus Festival. Aber auch der einzige Konsens. Schon bei der Reflexion, ob Europas scheinbar konstitutionelle Fadheit etwas Negatives sei, gehen die Meinungen auseinander und werfen einige, ungeahnte Möglichkeiten auf. Der frühsommerliche Traum eines sonnigen Festivals wird leider schon am ersten Nachmittag vom Regen davon gespült. Zunächst ist nicht klar, ob die tropfnassen Menschen im Foyer des barocken Palazzo Sorbello zur Diskussion wollen, oder nur vor dem Regen geflohen sind. Drinnen herrscht fliegender Wechsel.

Marco Affronte, Europaparlamentarier für Italien und Deserteur vom Movimento 5 Stelle, unterhält sich mit seinem niederländischen Kollegen Bas Eickhout, mit dem er nun gemeinsam in der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz sitzt. Diese hat die Veranstaltung organisiert und co-finanziert. Das übrige Panel sitzt bereits. Rima Deljkic vertritt die Europäische Kommission in Kroatien. Zwei Plätze weiter rückt der finnische Journalist Jukka Niva bereits nervös auf seinem Stuhl herum.

Die Europa-Journalistin Ruth Reichstein moderiert die Runde, bittet die beiden MEPs ihre gewohnte Haltung einzunehmen und eröffnet mit einem bekannten Problem Die BürgerInnen haben kein Interesse an Europa, die Wahlbeteiligung liegt in den meisten Mitgliedstaaten bei unter 50 Prozent. Für Jukka Niva keine schlechte Nachricht. Gerade wegen des geringen Interesses konnte er mit seinem Team beim finnischen öffentlichen Fernsehen experimentieren. Junge JournalistInnen sollen in der Europawahl eine Chance sehen, neue Formate der Wahlberichterstattung auszuprobieren. Im Europaparlament hat man mit der geringen Wahlbeteiligung weniger Freude.

Sauerstoffmangel

Bas Eickhout fehlt in der Europäischen Ebene der Sauerstoff, die politischen Inhalte. Die Euroskeptiker haben zwar etwas Luft herein gelassen, die Front aber damit zwischen Pro- und Anti-Europäern abgesteckt. Pro-Europäische EU-Kritik hat in der Debatte keinen Platz. Marco Affronte pflichtet ihm bei. Dass er diese Position innerhalb des Movimento 5 Stelle nicht glaubwürdig einnehmen konnte, war ein Grund für seinen Austritt. Er zieht aber auch die Medien in die Verantwortung. Sie müssen die EU besser erklären und aktiv europäische Themen setzen.

In Kroatien weiß man, wie das geht. Rima Deljkic erzählt begeistert von den Debatten im Vorfeld zum EU-Beitritt ihres Landes vor fünf Jahren. Das Paradoxe daran: nach dem Beitritt verschwanden die Debatten. Sie hat damals bei einigen Chefredakteuren nachgefragt. Für sie waren die Debatten Teil der Beitrittsbemühungen. Dieses Ziel sei nun erreicht, deshalb brauche es keine mehr.

Bas Eickhout sieht sich bestätigt. Der Beitritt war ein politisches Ziel, die EU selbst hat jedoch einen unpolitischen Charakter. Anders als sein Fraktionskollege will er die Arbeit jedoch nicht auf die Medien abschieben. Es liegt an den PolitikerInnen, Europapolitik näher an die BürgerInnen zu bringen.

Jukka Nivas Augen leuchten auf, das war sein Stichwort. Es kommt der Satz, den er in der restlichen Debatte noch öfter verwenden wird: Wir müssen uns für jene interessieren, die sich NICHT für uns interessieren. Wie? Indem man sich an deren Mediennutzungsverhalten anpasst. Zum Beispiel mit Sieben-Sekunden-Videos. Moderatorin Ruth Reichstein fragt verwundert nach, wie er sich das vorstellt, doch während Niva nachdenkt, kommt ihm Marco Affronte dazwischen. Diese Vereinfachung würde am Ende nur den Populisten helfen, meint der Italiener, dem man den Frust nach der vergangenen Wahl anhört und -sieht.

Europäische Medien gesucht

Nun wandert das Mikrophon ins Publikum, in die Hand eines Studenten, der das Thema Europäische Öffentlichkeit anspricht. Bes Eickhout greift es auf und meint gleich vorweg: Europäische Medien sind kurz- und mittelfristig unrealistisch. Es gibt zwar Euronews, aber niemand schaut es. Darüber ist sich das Panel fast einig, nur Rima Deljkic widerspricht. Euronews sei eine gute Ergänzung. Der nächste, wichtige Schritt muss aber sein, es in allen 24 EU-Sprachen anzubieten.

Niva denkt gleich einen Schritt weiter. Euronews müsse sich mehr auf kritischen Europa-Journalismus konzentrieren, um eben den pro-europäischen EU-Kritikern eine Plattform zu bieten. Deljkic stimmt umgehend zu, auch Eickhout nickt zustimmend. Ihm ist es jedoch wichtiger, dass sich nationale Medien europäisieren. Dafür müssen auch die PolitikerInnen erkennen, dass die EU nicht nur der Sündenbock sein kann. Macron hat das verstanden und gegen den Willen seiner Berater auf europäische Themen gesetzt.

In der nächsten Publikumsrunde ergreift ein junger Italiener das Mikrophon und nennt jenes Wort, ohne das auf diesem Festival noch keine Diskussion ausgekommen ist: Fake News. Er fragt nach deren Rolle in den italienischen Wahlen. Auf Affrontes Stirn bilden sich wieder Falten, doch Jukka Niva springt für ihn ein.

Geschäftsmodell Fake News

Er erklärt Fake News ökonomisch. Falschmeldungen gab es schon immer, der Britische Boulevard bietet hier ein umfangreiches Archiv. Fake News aber sind ein profitables Geschäftsmodell, deswegen werden sie bleiben. Die einzige Lösung ist, den Menschen, vor allem Kindern, beizubringen, wie sie damit umgehen können. Im besten Fall erklären diese es dann auch ihren Eltern. Eickhout pflichtet ihm bei. Denn eine politische Lösung, bei der die Politik Fake News definiert, gibt ihnen zu viel Macht über die Medien.

Am Ende zeigt sich Marco Affronte doch noch versöhnlich mit seinem Land. Wenn die Populisten an der Macht sind, müssen sie die Karten auf den Tisch legen. Dann werden sich ihre scheinbaren Lösungen als leere Forderungen entblößen.

Am Schluss versucht sich jede und jeder an Nivas neuem Modell und gibt ein kurzes Statement. Jukka Niva darf noch einmal sein Interesse für die Nicht-Interessierten bekunden, Bas Eickhout zur pro-Europäischen EU-Kritik aufrufen. Rima Deljkic beschwört sich auf die Europäischen Werte, Marco Affronte auf die Jugend und beginnt im nächsten Moment gleich ein Gespräch mit dem jungen Italiener. Auch die meisten anderen suchen nach ihren Landsleuten und aus einem akzent-schwangeren Englisch werden wieder ein Mix aus europäischen Sprachen. Genug europäische Öffentlichkeit für einen Tag. Alle raus, denn draußen kommt langsam die Sonne zurück. (Luca Scheiring, 13.4.2018)