Kurzzeitvolksbühnenintendant Chris Dercon.

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Berlin – Während die Bühne und der Zuschauerraum der Berliner Volksbühne im letzten halben Jahr oft eher halb leer als halb voll blieben, fand das eigentliche Schauspiel im Hintergrund statt. Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und RBB zeichnen es aufgrund von E-Mails und Gesprächen mit Akteuren nach. Eine ökonomisch fatale Planung des Ex-Intendanten Chris Dercon zeigt sich dabei etwa.

Die Bespielung des Flugfeldes Tempelhof sei von Anfang an finanziell nicht gedeckt gewesen. Dercon wäre 2015 mit insgesamt zwei Millionen Euro von viel zu hohen Sponsorgeldern (1,25 Millionen Euro) und Karteneinnahmen (750.000 Euro) ausgegangen. Sponsoring war wohl als Leiter der chicen Londoner Tate Modern einfacher zu lukriieren. Zudem hat er in manchen Budgetdarstellungen die Mietkosten für das Gelände und Umbaukosten des Hangars schlicht nicht einbezogen.

Während jene sich aber als konstant erwiesen, sprudelten die Einnahmen nicht wie erhofft. Dercon rechnete mit 250.000-Tempelhof-Besuchern jährlich. Eröffnet wurde ebendort im Herbst 2017 mit einem Tanzfest um 455.000 Euro. Seither ist die Spielstätte aber eher verschlafen. Im Stammhaus am Rosa-Luxemburg-Platz ging es erst im November los. Auch da lief vieles nicht, wie geplant.

Umstellung gescheitert

Die Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und RBB besagen etwa weiters, dass den Verantwortlichen die Gefahr, den Repertoirebetrieb auf einen aus Events und Gastspielen umzustellen, deutlich gemacht wurde. Marietta Piekenbrock, vorher Festival-Kuratorin und dann Dercons Programmdirektorin, wies darauf hin. Kulturstaatssekretär Tim Renner antwortete ihr, der Repertoirebetrieb stehe für ihn "nicht im Vordergrund".

Das war nicht nur hinsichtlich der Publikumsbindung ungeschickt. Sondern es verursachte auch erhöhte Kosten für Produktionseinkäufe neben der Stadttheaterstruktur, während Kostüm- und Bühnenbildner des Hauses kaum mehr etwas zu tun hatten.

Panik statt Programm

Regisseure wie René Pollesch in sein Team zu holen, gelang Dercon nicht. Pollesch erklärte in der Süddeutschen Zeitung, bei einem gemeinsamen Gespräch mit Dercon hätte er den Eindruck gehabt, jener hätte "nicht einmal meinen Wikipedia-Eintrag gelesen" und keine Ahnung von seiner Arbeit.

Als Folge geriet Dercon in die Not, das Haus irgendwie zu bespielen, kaufte offenbar ohne rechten Plan Produktionen ein. Er setzte zudem auf Diskussionsabende, Vorträge, Konzerte. So zog das 800-Plätze-Haus an vielen Abenden nur etwa 200 Besucher an. An anderen blieb es gleich zu, die Zahl an Schließtagen war hoch.

Aus einem Budgetbericht vom vergangenen Montag ging schließlich hervor, so die Süddeutsche Zeitung, dass der Spielbetrieb im laufenden Jahr nur auf Sparflamme aufrecht erhalten bleiben kann, eine Neuproduktion fürs Haupthaus damit außer Reichweite steht.

Offenbar kein "Einvernehmen"

Tim Renner, der Dercon trotz Widerständen berufen hatte, wurde im Dezember 2016 abgelöst, ebenso der nach wie vor Regierende Bürgermeister und damals zudem Kultursenator Michael Müller. Kultursenator wurde Klaus Lederer (Die Linke). Der Frank Castorf Zugeneigte änderte die Personalentscheidung aber nicht mehr, auch wenn er zum Einstand verkündete, er müsse die Personalie Dercon noch einmal prüfen. Jetzt hat er allerdings den Schlussstrich gezogen. Die Trennung "im gegenseitigen Einvernehmen" mit Dercon ist laut dem Tagesspiegel aber nur das offizielle Bild. Tatsächlich habe Lederer Dercon gekündigt.

Und er hat Klaus Dörr gebeten, kommissarisch als Intendant einzuspringen. Dörr wurde Ende März als künftiger geschäftsführender Direktor der Volksbühne designiert. Wie er gegenüber der Stuttgarter Zeitung sagte, wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht, dass er als Interimsintendant bald allein mit dem Haus dastehen würde. Lederer dürfte es zumindest geahnt haben und wollte die Zukunft nach Dercon wohl in Bahnen lenken.

Warten auf den nächsten Künstler

Bis Saisonende ist Dörr neben der neuen Berliner Aufgabe jedenfalls noch künstlerischer Direktor und stellvertretender Intendant am Schauspiel Stuttgart. Zu seinen interimistischen Plänen für die Volksbühne sagte Dörr zur Stuttgarter Zeitung, alle bereits eingegangenen Verabredungen für Produktionen würden eingehalten. "Der Spielbetrieb läuft weiter. (...) Ich werde darüber nachdenken, Inszenierungen einzukaufen, zu adaptieren. Und ich denke auch an ein bis zwei Neuproduktionen."

"Was und welche Inszenierungen wir bringen", so Dörr in dem Interview weiter, "hängt von so vielen Faktoren ab, auch von der Verfügbarkeit der Schauspieler, von Geld. Es gibt zurzeit kein Ensemble, man muss für alles Gäste verpflichten. Ich versuche es zu ermöglichen, dass sich wieder ein Ensemble bilden kann." Dauerhaft will der studierte Wirtschaftswissenschafter nicht Intendant werden, dafür brauche es einen Künstler.

Nachfolge-Spekulationen

Stuttgarts Intendant Armin Petras hört im Sommer auf, man spekuliert, ob er Dörr nach Berlin folgen könnte. Zuvor hatten beide bereits das Maxim-Gorki-Theater geführt. Aber auch Matthias Lilienthal, dessen Intendanz an den Münchner Kammerspielen nach nur einer Periode nicht verlängert wird und der unter Castorf an der Volksbühne sozialisiert wurde, ist ein Name. (wurm, 14.4.2018)