Philosoph Robert Pfaller über die Moralisierung der Politik: "Moral will, dass es die Schwachen gut haben. Politik dagegen hat dafür zu sorgen, dass niemand schwach ist."

Foto: Heribert Corn

Schon vor fünf Jahren war er von der "gouvernantenhaften Politik", die ihm nicht nur das Rauchen verbieten wollte, so genervt, dass der Wiener Philosoph Robert Pfaller die Initiative "Mein Veto – Bürger gegen Bevormundung" (unter anderem von der Tabak- und Bierindustrie unterstützt) und gleich auch noch "Adults for Adults" mitinitiierte, eine Gruppe europäischer Intellektueller sowie Künstlerinnen und Künstler, die sich gegen bevormundende Politik, die die Wählerinnen und Wähler "wie Kinder behandelt", einsetzen. Sein jüngstes Buch heißt Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur. Aber wem nützt die Infantilisierung? Antworten darauf gibt Pfaller am 25. April (17 Uhr, Hörsaal 3D, NIG, Universitätsstraße 7) im Rahmen der von Konrad Paul Liessmann in Kooperation mit dem STANDARD organisierten Vortragsreihe "Fachdidaktik kontrovers" – und vorab hier:

STANDARD: Haben Sie Ihre Sprache im Lauf der jüngeren Zeit verändert? Gendern Sie? Schreiben Sie das Binnen-I? Gibt es Wörter, die Sie nicht mehr sagen, weil "man" sie heute nicht mehr sagt?

Pfaller: Natürlich versuche ich andere Menschen beim Sprechen nicht ungewollt zu kränken oder zu beleidigen. Das Beste, was man meiner Ansicht nach dazu tun kann, ist, wie ein vernünftiger Mensch zu ihnen zu sprechen. Eine Kunstsprache zu verwenden, also zu "gendern" oder ein Binnen-I einzufügen, scheint mir dabei eher hinderlich. Man klingt dabei schnell nicht mehr wie ein vernünftiger Mensch. Und man wirkt auf ungute Weise bemüht oder sogar ein wenig aggressiv – so, als ob man Peinlichkeit vermeiden müsste oder den anderen belehren wollte. Diese Sprachtricks dienen ja nicht so sehr dazu, Dritte zartfühlend zu benennen. Sie haben in erster Linie die Funktion, die Zweiten, also die, zu denen man spricht, sozial zu überbieten und sie pädagogisch zu unterwerfen.

STANDARD: Sie kritisieren die politisch korrekte Sprache als Symptom einer zunehmenden Infantilisierung der Gesellschaft. Warum?

Pfaller: Das Zartsprechen ist das kulturelle Symptom eines ökonomischen Politikversagens. Man hat Probleme, die in der Ökonomie zu erledigen gewesen wären, in die Kultur verlagert und sie dort zu behandeln versucht. Wenn man das aber tut, dann löst man die Probleme nicht nur nicht, sondern man produziert sogar neue. Nun werden die Menschen nämlich von ihren Interessen abgelenkt auf ihre Empfindlichkeiten. So werden sie unfähig, ihre wichtigsten Interessen wahrzunehmen und sich dafür mit anderen, ungeachtet von deren Identitäten oder Empfindlichkeiten, zusammenzuschließen. Die Propaganda der Empfindlichkeit entsolidarisiert. Und sie zerstört den öffentlichen Raum. Denn wo sie herrscht, kann niemand mehr mit anderen unter Absehung von der jeweiligen Person sprechen. Britische Studierende sagen etwa nicht mehr "Ich stimme nicht zu", sondern einfach nur "Was Sie sagen, verletzt mich". Da hört sich jeder Diskurs unter vernunftbegabten, politikfähigen Menschen auf. Das ist ein perfektes neoliberales Ergebnis.

STANDARD: Was ist für Sie eigentlich "Erwachsenensprache"?

Pfaller: Erwachsen zu sprechen heißt, unter Absehung von der eigenen Person zu sprechen – also die eigenen Besonderheiten, Empfindlichkeiten, Befindlichkeiten und Macken hinter sich zu lassen, um sowohl in sich selbst als auch im Gegenüber das Allgemeine – etwa der besseren Begründung oder des besseren Arguments – zum Vorschein zu bringen. Erwachsenheit ist die Fähigkeit zu solcher Distanznahme gegenüber sich selbst. Sie setzt die Einsicht voraus, dass bestimmte Widrigkeiten Teil des Lebens sind – dass also zum Beispiel, wie die amerikanische Feministin Laura Kipnis bemerkt, nicht alle Liebesgeschichten immer ganz wunschgerecht verlaufen, was aber nicht bedeutet, dass sie deshalb schon als "traumatisch" gewertet werden müssten. Erwachsene können mit so etwas rechnen, und sie können es verkraften, weil sie wissen, dass sie keine Mikroorganismen sind, die schon durch Kleinstes, etwa durch sogenannte Mikroaggressionen, aus der Bahn geworfen werden können.

STANDARD: Wann wurde denn aus dem Erwachsensein eine Form intellektualisierter Hyperempfindsamkeit?

Pfaller: Meine These lautet, dass diese postmoderne Propaganda der Empfindlichkeit und der exzessiven Behutsamkeit im Sprechen die Begleiterscheinung und Komplizin der brutalen, raubtierhaften neoliberalen Ökonomie ist. In dem Moment, ungefähr um 1980, als auch die Sozialdemokratien der westlichen Länder nicht mehr an der so erfolgreichen keynesianischen Ökonomie festhielten, die in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten für Wohlstand, soziale Sicherheit und zunehmende Gleichheit gesorgt hatte, verlagerten sie ihre Engagements in die Kultur. Statt Gleichberechtigung und Kinderbetreuungseinrichtungen bekam man nun "Diversity" oder Binnen-Is.

STANDARD: Sie vermissen erwachsene Sprache auch in der Politik. Ist die von Politikern gern geäußerte Phrase, man wolle "die Sorgen der Bürger ernst nehmen", schon so eine sprachliche Präparierung des potenziell immer besorgten, verletzten, schutzbedürftigen Wesens, das man dann "Bürger" nennt?

Pfaller: Mir scheint eher, dass diese Phrase ein anderes Versäumnis bezeichnet: die Vernachlässigung der unteren Hälfte der Gesellschaft. Diese hat in den letzten 30 Jahren massive Einkommensverluste erleiden müssen. Dazu kommt noch der Verlust an Sozialprestige. Durch Political Correctness und ähnliche Kulturprogramme hat man die weniger Gebildeten zusätzlich deklassiert und auch das Leid und seine Anerkennung nach oben, zu den Eliten, umverteilt. Die Unteren dagegen sind nicht verletzlich oder empfindlich. Die haben wirkliche Sorgen; sie sind wütend und fürchten weiteren sozialen Abstieg. Darum wählen sie nun oft rechts: weil das am ehesten ihre Wut ausdrückt und weil sie hoffen, dadurch die ganz Unteren auf Abstand halten zu können.

STANDARD: Was bedeutet die von Ihnen konstatierte "Politik der Verletzlichkeit" für die Politik? Dass politisch inkorrekte "Locker-Room-Talker" wie Donald Trump oder Rechtspopulisten zum Zug kommen, weil es der Linken, nachgerade buchstäblich, die Rede verschlägt vor lauter Ringen um die feinsten, empfindsamsten Worte?

Pfaller: Da das Zartsprechen der Pseudolinken als etwas Elitäres wahrgenommen wird, reden die Rechtspopulisten ihrerseits nun vulgär: Dadurch können sie sich als "Vertreter der einfachen Leute" aufführen. Auch wenn sie das in ihrer ökonomischen Politik natürlich nicht sind. Aber so, wie die Linke nur noch sprachliche Sozialpolitik betreibt, genügt es der neuen Rechten, bloß auf der symbolischen Ebene "volksnah" zu sein. Der Rechten diese billige erfolgbringende Möglichkeit eröffnet zu haben ist einer der größten strategischen Fehler der linken Sprach- und Kulturprogramme.

STANDARD: In welchem Ton würden Politikerinnen und Politiker mit uns reden, wenn sie wieder "Erwachsenensprache" nutzen würden?

Pfaller: Wie mit vernünftigen, erwachsenen Menschen, die belastbar und klug genug sind, entscheidende Fragen von unbedeutenden – und wirkliche Politik von bloß symbolischer Pseudopolitik – unterscheiden zu können.

STANDARD: Ist dieser immer diffizilere und elaboriertere Sprachdiskurs nicht eigentlich angesichts der konkreten Lebenslagen von vielen Menschen auch ein totaler Eliten- oder auch Mittelschichtsluxusdiskurs, den man sich buchstäblich leisten können muss, weil man mit der Bewältigung des Alltags nicht wahnsinnig überbeansprucht ist?

Pfaller: Genau. Um Probleme der angemessenen Bezeichnungen oder der Geschlechtsidentitäten ganz oben auf der Prioritätenliste zu haben, muss man zur oberen Hälfte der Gesellschaft gehören, beruflich hauptsächlich am Computer arbeiten, gebildet sein und mit Konkurrenten in erster Linie um sogenanntes kulturelles Kapital wetteifern.

STANDARD: Sie konstatieren ja auch eine "verblödende Moralisierung der Politik". Was meinen Sie damit? Hat Politik nicht auch die Aufgabe, bestimmte Dinge, die mit einigem Recht als richtig oder zumindest richtiger als andere gelten, zu forcieren und zu unterstützen und das Gegenteil zurückzudrängen? Sei es zum Beispiel der Nichtraucherschutz oder aber gegen Diskriminierung von Frauen, Homosexuellen oder anderen aktiv vorzugehen?

Pfaller: Politik hat die Aufgabe, Konflikte zwischen Interessen auszutragen und für Verhältnisse zu sorgen, in denen Menschen einander als Gleichgestellte gegenübertreten können. Moralisieren ist dem gegenüber immer eine Verfallserscheinung. Die Moral romantisiert die Schwäche und erklärt die Schwachen und die Opfer grundsätzlich zu den Guten, die sie damit über die "Bösen" stellt. Die Moral entsolidarisiert also und erzeugt neue symbolische Hierarchien. Sie will, dass es die Schwachen gut haben. Politik dagegen hat dafür zu sorgen, dass niemand schwach ist. Ebenso verhält es sich übrigens mit den derzeit beliebten, meist lächerlichen "ethischen" Waren oder Unternehmensstrategien. Bertolt Brecht hat einmal gesagt: "Wenn der Pilot eines Verkehrsflugzeugs ein Genie sein muss, dann kann etwas mit den Instrumenten nicht stimmen." So ist es auch derzeit in der Wirtschaft: Wenn ein Unternehmen sich tugendhaft wie ein Heiliger verhalten möchte oder die Bankiers nicht gierig sein sollen, dann kann etwas mit den Gesetzen nicht stimmen. Politik hat für Verhältnisse zu sorgen, in denen "Codes of Conduct", also Verhaltenskodizes, überflüssig sind.

STANDARD: Was bedeutet der Verlust der Erwachsenensprache eigentlich für die, die tatsächlich infantil, also kindlich, sein dürfen – die Kinder nämlich –, wenn sie zunehmend von infantilisierten "Erwachsenen" umzingelt sind?

Pfaller: Ich fürchte, nichts Gutes. Denn sogar Kinder kann man noch infantilisieren. Dies scheint mir in vielen aktuellen Pädagogiken der Fall zu sein. (Lisa Nimmervoll, 16.4.2018)