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"Eine ganz andere, unbekannte Wut'': Monika Maron.

Foto: Patrick Sinkel / dapd

Sechzig verschiedene Geschlechtsidentitäten und eine Vorahnung von Krieg: Damit sieht sich Mina Wolf konfrontiert, wenn sie Zeitung liest. Das eine hat mit dem anderen nicht direkt zu tun, passt aber in die "leicht entzündbare Stimmung", die das Thema des neuen Romans von Monika Maron ist: Munin oder Chaos im Kopf (S. Fischer).

Die Geschichte eines Sommers in Berlin, erschienen im Februar und inzwischen in zweiter Auflage auf dem Markt, passt perfekt in die gegenwärtige Situation in Deutschland. Monika Maron, Jahrgang 1941, eine der bekanntesten Autorinnen aus der ehemaligen DDR und nach dem Tod von Christa Wolf eine der letzten literarischen Galionsfiguren des Ostens, misst einem Land das Fieber.

Es braut sich etwas zusammen

Sie erfindet dafür eine Frau, die eine Generation jünger ist als sie selbst. Man kann diese Mina aber durchaus als eine Stellvertreterin von Maron sehen, ob ihr das nun recht ist oder nicht. Vielfach wird Munin oder Chaos im Kopf derzeit als eine Warnung gelesen – vor einer "sich komplett ins Nichts auflösenden Gesellschaft", wie es in einer Kundenrezension heißt.

Nicht nur durch Zeitungen, sondern auch durch andere Lektüren braut sich in dem Buch auf jeden Fall etwas zusammen. Mina Wolf verbringt die meisten Zeit in ihrer Wohnung, schreibt an einem Aufsatz über den Dreißigjährigen Krieg, geplagt von einer verrückten Sängerin auf dem Balkon gegenüber. Die Nachbarn werden zunehmend nervös, diese Nervosität ist das eigentliche Thema des Buchs. Die Sängerin ist aber nur ein literarischer Vorwand, wie auch die Krähe namens Munin, mit der Mina Wolf ihre Selbstgespräche führt. Es geht um die Zukunft von Deutschland.

Fragwürdiges Vokabular

Und dabei stellt sich vor allem aufgrund des verwendeten Vokabulars bald der Verdacht ein, es könnte nach Uwe Tellkamp auch Monika Maron in das nationale Lager gewechselt sein. Diese Frage spaltet gerade die Literaturkritik. In einem Interview hat Maron selbst vor wenigen Tagen angedeutet, dass sie die Erklärung 2018, mit der sich seit März die Rechte in Deutschland gegen die "illegale Masseneinwanderung" wendet, vielleicht auch unterschrieben hätte – "wenn ich die Wirkung geahnt hätte".

In der nur aus zwei Sätzen bestehenden Erklärung wird die "Wiederherstellung der rechtsstaatlichen Ordnung an den Grenzen des Landes" gefordert. Dahinter steht die Behauptung, dass diese Ordnung derzeit nicht gegeben ist, dass sich Deutschland also in einem Zustand der Rechtlosigkeit befindet. Und das passt wiederum zu Munin oder Chaos im Kopf.

Die "Kassandra von Berlin"

Das Buch spielt mit der Angst. Monika Maron gilt manchen schon als die "Kassandra von Berlin". Und da gehört dann eben der erwähnte "Genderwahnsinn" in einen größeren Zusammenhang, der auf eine provokante Vokabel hinausläuft: Krieg.

Bei den 60 Geschlechtern ist es ein "Krieg gegen das generische Maskulinum", ein "Krieg, den eine Horde von Fanatikern in unbegreiflicher Anmaßung der Sprache erklärt hat". Dahinter zeichnen sich ganz andere Kriege ab, denn nicht nur waren zuletzt "Millionen fremder junger Männer ins Land geströmt", und "damit auch der Krieg", der in anderen Teilen der Welt geführt wird. Und selbst diese Beschreibung der Flüchtlingskrise gehört noch in ein größeres Szenario, denn Mina gewinnt den Eindruck, dass "hundert Millionen Söhne uns längst den Krieg erklärt haben" und dass "Gewalt, Rohheit, Dumpfheit auch uns wieder erobern könnte".

"Seit Houellebecqs Roman hielt ich alles für möglich"

Dieses "auch uns" ist aufschlussreich, denn damit wird eine Gemeinschaft angenommen, die über Dumpfheit erhaben wäre. Die Thesen des umstrittenen Bevölkerungswissenschafters Gunnar Heinsohn, die in der Rede von den "Söhnen" durchschimmern, fallen bei Mina Wolf auf fruchtbaren Boden. Wenn sie über den Dreißigjährigen Krieg liest, denkt sie an die "Millionen Söhne Afrikas", und damit steht im Raum, dass in Deutschland eines Tages wieder Söldner (die Implikation ist deutlich: dieses Mal schwarze) ihr Unwesen treiben könnten.

Maron lässt Mina Wolf vor sich hin spekulieren und gibt ihr auch noch einen ganz besonderen intellektuellen Freibrief mit: "Seit ich Houellebecqs Roman gelesen hatte, hielt ich alles für möglich."

Gemeint ist Unterwerfung, ein Buch, das den Rechten wie gerufen kam. Houellebecq schreibt Fiktion, und das gilt auch für Maron. In beiden Fällen kann man sehr gut sehen, dass Bücher leicht als Manifeste gelesen werden können, wenn sie es darauf anlegen. Im Fall von Munin oder Chaos im Kopf ist das Menetekel nicht das einer islamisierten Gesellschaft wie bei Houellebecq, sondern das einer Erfahrung von anarchischer Gewalt auf deutschen Boden.

Aufruhr und Provokation

Der kleine Aufruhr in einer Westberliner Straße, von dem Maron erzählt, wird zu einem Vorzeichen für ein möglicherweise "befreiendes Chaos". Als dann etwas Schreckliches passiert, gibt es sogar konkreten Anlass dafür, dass "eine ganz andere, unbenannte Wut" sich äußern könnte, und dass vielleicht eine "verkümmerte Wehrhaftigkeit" erwacht.

Nachdem sie einen ganzen Roman lang mit diesem "explosiven" Vokabular hantiert hat, versucht Maron, die implizite Botschaft wieder einzufangen. Mina Wolf liest nun Natalia Ginzburg und empfindet für einen Moment Frieden. Aber das Chaos im Kopf hat sie doch so weit getrieben, dass man die Vernunft, die dieser provozierende Roman für sich reklamiert, wohl doch eher im Widerspruch dagegen suchen sollte. (Bert Rebhandl, 17.4.2018)