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Wie ein Ei dem anderen? Wie gleich soll die Gesellschaft sein, welche Einkommensunterschiede sind verträglich? Die Debatte darüber hat laut Gleichheitsforschern spät eingesetzt.

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Wien – Wenn es ein wirtschaftspolitisches Thema gibt, über das seit einigen Jahren mehr und mehr geredet wird, ist es soziale Ungleichheit. Die Weltwirtschaftskrise und der fatale Bankencrash nach 2007 haben Millionen von Menschen den Job gekostet und zahlreiche Staaten beinahe in den Bankrott getrieben. Als eine Folge davon ist eine öffentliche Debatte über Verteilungsfragen entbrannt.

Mit dem Wahlsieg von Donald Trump wurde sie intensiver: Waren es nicht vor allem die Globalisierungsverlierer, die Trump an die Macht brachten?

Aber kann es sein, dass in der global geführten Diskussion einige Feinheiten und Grautöne verloren gegangen sind, dass in einigen Ländern das Problem dringlicher wahrgenommen wird, als es tatsächlich ist? Diese These wird in einem neuen Forschungspapier aufgeworfen. Die Untersuchung ist unter der Federführung von Tobias Thomas, dem Direktor des Wiener Wirtschaftsforschungsinstituts Eco-Austria, und seinen Kollegen vom Institut der deutschen Wirtschaft entstanden. Beide Institute gelten als unternehmensnah, weshalb Kritiker sich leichttun werden, die Analyse als ideologisch motiviert abzutun. Dabei wirft das Forschungspapier einige interessante Fragen auf.

Die Ökonomen zeigen anhand von Daten aus Österreich, Deutschland und den USA, wie verschieden sich die Ungleichheit der Einkommen entwickelt hat. Die Verteilung in den USA ist nicht nur ungleicher als in Kontinentaleuropa. Seit den 1990er-Jahren ist die Kluft stark gewachsen.

Dagegen war die Entwicklung in Deutschland und Österreich stabil, die Lohnschere ist nicht größer geworden. Als Maßeinheit dient der Gini-Koeffizent, der von Statistikern gern herangezogen wird. Für Österreich existieren fortlaufende Zahlen ab 2007.

Trügerische Wahrnehmung

Aber auch wenn man andere Kennzahlen berücksichtigt, etwa wenn man Einkommen der obersten und untersten 20 Prozent der Bevölkerung vergleicht, ist das Bild ähnlich. Die Entwicklung ist in Deutschland und Österreich seit Jahren stabil, während die Kluft in den USA größer ist und wächst.

Bei der öffentlichen Wahrnehmung ist es anders. Laut Umfragen empfindet in Deutschland mehr als die Hälfte der Bevölkerung die Einkommensunterschiede im Land als zu groß. In Österreich sind es um die 46 Prozent. Ähnlich viele Menschen in beiden Ländern denken, dass die Unterschicht die größte Bevölkerungsgruppe bildet. Das ist falsch. Die meisten Menschen gehören in Deutschland wie Österreich zur Mittelschicht.

Immer mehr Schlagzeilen

Wie ist die Kluft zwischen Realität und Wahrnehmung zu erklären? Die Ökonomen um Thomas vermuten, dass Medien dahinterstecken. Zur Analyse ziehen sie eine Auswertung von mehr als 600.000 Nachrichtenbeiträgen aus Zeitungen und TV im deutschsprachigen Raum heran. Dabei zeigt sich: Der Anteil der Berichterstattung über Ungleichheit hat sich seit 2001 verdreifacht.

Parallel dazu haben die Ökonomen, die ihren Beitrag dieser Tage in der Fachzeitschrift Wirtschaftspolitische Blätter publizieren, tausende Einzelinterviews aus Deutschland ausgewertet. Dabei zeigt sich: Immer wenn kurz vor diesen Interviews medial über wachsende Ungleichheit berichtet wurde, gaben Menschen eher an, sich Sorgen über die soziale Kluft zu machen.

Fragen der Einkommensverteilung sind wichtig, sagt Ökonom Thomas von Eco-Austria. Aber die reale Entwicklung in Österreich und Deutschland über die vergangenen Jahre passe nicht mit dem medialen Hype zusammen. "Die Entwicklung wird anders wahrgenommen, als sie tatsächlich ist."

Importierte Debatte

Doch woher kommt der mediale Alarmismus? Eine Erklärung könnte lauten, dass die Debatte aus den USA importiert ist. So wie Hollywood das Kinoprogramm in Europa dominiert, wäre es möglich, dass die in den USA in Fachblättern und Qualitätszeitungen geführte Debatte über Verteilungsfragen herübergeschwappt ist.

Tatsächlich hat der Trump-Triumph auch in Kontinentaleuropa zu einer intensiven medialen Auseinandersetzung mit Globalisierungsfragen geführt. Dabei findet eine Erosion der Mittelschichten wie in den USA in Österreich und Deutschland nicht statt. Dass ganze Regionen so wie im mittleren Westen der USA mit Deindustrialisierung, sozialem Abstieg und enormer Kriminalität kämpfen, ist in Österreich und Deutschland ebenso wenig bekannt. Die sozialen Sicherungssysteme sind in Europa andere. Zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern wird stärker auf Ausgleich gesetzt. Kann es sein, dass diese Unterschiede zu wenig beachtet werden? Ökonom Thomas schließt dies nicht aus. Andere öffentliche Debatten, etwa über Migration, können nachgewiesenermaßen ohne Anlassfall von einem Land auf ein anderes überspringen.

Versäumnis nachholen

Ein Einwand gegen die These von der übertrieben wahrgenommenen Kluft lautet, dass die Verteilungsstatistiken sich fast nur auf Gehälter und Löhne beziehen. Einkommen aus Vermögen lässt sich nur schwer erfassen – Superreiche bekommt man etwa nie via Befragungen. Medien und Bürger könnten demnach über eine wachsende Kluft diskutieren, die bloß statistisch kaum messbar ist.

Der Ungleichheitsforscher Wilfried Altzinger von der Wirtschafts-Uni Wien macht auf einen weiteren Punkt aufmerksam. Die Einkommensungleichheit in Österreich sei zuletzt stabil gewesen, doch in den 1980er- und 1990er-Jahren sei die Kluft stark gestiegen. Und in dieser Periode sei kaum darüber debattiert worden, so Altzinger. Ab 2005 habe sich das geändert. Das lange Versäumnis werde jetzt nachgeholt. (András Szigetvari, 17.4.2018)