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Die Schweiz bietet Jobsuchern aller Nachbarländer einen Arbeitsmarkt in der eigenen Muttersprache.

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Wien – Seit dem Vorjahr sinkt die Zahl der Arbeitslosen in Österreich wieder. Doch im EU-Vergleich verlor der heimische Arbeitsmarkt die Spitzenposition schon vor vier Jahren und liegt heute nicht einmal mehr unter den besten zehn. Selbst zu Spitzenzeiten gab es in Europa ein Land, in dem die Arbeitslosigkeit niedriger war: die Schweiz. Was steckt hinter dem stabilen Arbeitsmarkt bei den Eidgenossen?

"Der wichtigste Grund für die niedrige Arbeitslosigkeit ist die Flexibilität des Stellenmarkts," erklärt Oliver Schärli im Gespräch mit dem STANDARD. Der 44-Jährige ist zuständig für die Arbeitslosenversicherung im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in Bern. Nach wie vor werde wenig reguliert, die Arbeitgeber hätten relativ viele Freiheiten. Manch einer vermutet hinter solchen Aussagen eine Hire-and-fire-Mentalität, die nur Konzernen, aber nicht den Menschen helfe. Schärli erlebt das anders: Ohne starren Kündigungsschutz stellten Arbeitgeber in guten Zeiten viel Personal ein. Und in schlechten Zeiten seien Firmen freiwillig dazu bereit, nicht sofort Leute zu entlassen. "Denn sie wissen, dass im Ernstfall der schwierige Schritt zu Kündigungen möglich ist."

Luxussituation

Dass einige Branchen dringend Fachkräfte suchen, führe sogar zu der "Luxussituation", dass junge Menschen aus einer Vielzahl von Lehrstellen wählen können. Diese Stärke des Schweizer Arbeitsmarkts teilt Österreich: Dank der Lehrlingsausbildung zusammen mit Betrieben lernen junge Leute Qualifikationen, die tatsächlich benötigt würden.

Die Schweizer vertrauen jedenfalls darauf, dass ihr Bildungssystem jungen Menschen gute Jobchancen verschafft: Bei der letzten größeren Arbeitsmarktreform 2011 wurde die Wartefrist auf Arbeitslosengeld für Junge verlängert. "Man war der Meinung, dass Jugendliche gerade nach der Ausbildung nicht als Erstes den Weg in die Arbeitslosenversicherung gehen sollten, sondern gut genug ausgebildet seien, um einen Job zu suchen", erklärt Schärli. "Sie haben nun mehr Anreiz, selber eine Stelle zu finden." In keinem OECD-Land ist die Jugendbeschäftigung so hoch wie in der Schweiz (außer in Island), in Österreich liegt sie gut zehn Prozentpunkte darunter.

Frühpension tabu

Der demografische Wandel betrifft die Schweiz ebenso wie Österreich. Die Altersarbeitslosigkeit nimmt zu. Dass Ältere zu teuer für Arbeitgeber seien, sei nicht das Hauptproblem, sagt Schärli. So steil sei die Gehaltskurve nicht. "Oftmals ist es schlicht eine Kopfsache in den Personalabteilungen." Mit Sensibilisierungskampagnen geht die Politik dagegen vor. Trotzdem werde sich die Situation der Älteren allein wegen der Demografie verschärfen. Ein Mentalitätswechsel sei bereits zu spüren, auch wegen des Fachkräftemangels.

Eines spielt bei den Eidgenossen, anders als in Österreich, kaum eine Rolle. "Die Frühpension ist in der Schweiz doch ziemlich verpönt, das macht man ungern." Das staatliche Rentenalter liegt bei 65 für Männer und bei 64 für Frauen. Bei der Beschäftigung der 55- bis 64-Jährigen liegt die Schweiz mit rund zehn Prozentpunkten so weit über dem OECD-Schnitt, wie Österreich darunter liegt. Dass überhaupt genug junge Menschen nachkommen, liegt auch an der Migration.

Einer von vier Einwohnern hat keinen Schweizer Pass. Zum Vergleich: In Österreich hat jeder Siebente eine fremde Staatsbürgerschaft. 2015 kamen jedoch aufgrund der Flüchtlingskrise mehr Menschen nach Österreich als ins Nachbarland.

Arbeitsmigration

Arbeitsmigration ist in der Schweiz sehr stark konjunkturgetrieben. "Wenn die Wirtschaft brummt, kommen sehr viele Menschen, wenn es schlecht läuft, sehen wir auch, dass viele Leute wieder in ihre Heimatländer zurückkehren", sagt Schärli. Das liegt auch an der günstigen geografischen Lage, die es Österreichern, Deutschen, Franzosen und Italienern ermöglicht, beim Nachbarn im eigenen Sprachraum zu leben und zu arbeiten. Was passiert aber mit Schweizer Arbeitnehmern, die ihren Job verlieren? "Wir sind sehr großzügig bei den Beträgen", sagt Schärli, "dafür setzen wir auf relativ viel Druck bei der Wiedereingliederung." Bis zu 80 Prozent des Einkommens – mit Deckelung – beträgt das Arbeitslosengeld. Das entspricht im Maximum einem Jahreseinkommen von 120.000 Franken (100.000 Euro). Ausgezahlt wird es bis zu 520 Tage, bei Personen über 60 sogar 640 Tage. Das ganze System steht auf guten Beinen. Denn seit der letzten Reform schreibt die Arbeitslosenversicherung über den Konjunkturzyklus hinweg eine schwarze Null.

Großkonzerne als Joker

Die Arbeitsmarktpolitik ist nur ein Hebel, der die gute Beschäftigungslage in der Schweiz erklärt, sagt Christian Keuschnigg, Ökonom an der Universität St. Gallen. Wesentlich seien das stabile Wachstum und die Krisenresistenz des Standorts, Arbeitslosigkeit entstehe in Rezessionen. Während Österreichs Wirtschaft zwar in Boomphasen wie der gegenwärtigen oft stärker wächst als die des westlichen Nachbarn, ist der Einbruch in den Krisen ebenfalls ausgeprägter, gibt der ehemalige Chef des Instituts für Höhere Studien zu bedenken. Im verzögerten Sog der Eurokrise hat die Schweiz Anfang 2015 mit dem "Frankenschock" eine 20-prozentige Aufwertung der Währung erlebt. Die Produkte der stark exportorientierten Schweizer Betriebe wurden über Nacht um ein Fünftel teurer. Trotzdem kam es zu keiner größeren Konkurswelle und Massenentlassungen. Die vergleichsweise üppigen Kapitalpölster der Schweizer Firmen haben sich bewährt.

Für niedrige Arbeitslosigkeit sorgt auch die hohe Innovationskraft des Standorts. Kein anderes Land hat pro Kopf mehr Klein- und Mittelbetriebe, die in ihrer Nische weltweit führend sind, sogenannte Hidden Champions – hier steht Österreich ebenfalls gut da. Der Vorteil in der Schweiz: Junge Unternehmen haben besseren Zugang zu privatem Risikokapital, sagt Keuschnigg.

Multinationale

Nicht zu unterschätzen seien die vielen multinationalen Konzerne in der Schweiz, von den Pharmariesen und Großbanken über Nahrungsmittelkonzerne bis zu Maschinenbauern. Die Konzerne beschäftigen nicht nur hunderttausende Personen, sondern haben auch die notwendigen Mittel für Forschung und Entwicklung. Der Standortwettbewerb zwischen den Kantonen trägt dazu bei, die eigenen Multis im Land zu halten und sogar ausländische Firmen anzulocken.

Davon profitiert wiederum das lokale Gewerbe. Auch der öffentliche Sektor in der Schweiz ist gewachsen, sagt Keuschnigg. Beides ist aber kein Selbstläufer: Sowohl beim Wettbewerb um Firmen als auch beim Ausbau der Bürokratie haben die Schweizer Bürger immer ein (Abstimmungs-)Wort mitzureden. Egal ob Politiker oder CEO – wer Jobs verspricht, wird beim Wort genommen. (Leopold Stefan, 17.4.2018)