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Galizische Juden auf der Flucht vor der zaristischen Armee 1914/15: Das österreichische Militär war für Flüchtlingsangelegenheiten zuständig und deportierte viele Flüchtlinge wieder zurück nach Galizien.

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Rita Garstenauer, Börries Kuzmany (Hg.), "Aufnahmeland Österreich. Über den Umgang mit Massenflucht seit dem 18. Jahrhundert". 19,90 Euro. Mandelbaum-Verlag, Wien.

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Viele Beschreibungen der gegenwärtigen Migrationssituation sind nah am Wasser gebaut: Da ist die Rede von Strömen und Wellen, Dammbrüchen und vollen Booten. Damit zeichnet man von den zahlreichen Flüchtlingen, die es verstärkt seit 2015 nach Europa zieht, das Bild einer Naturgewalt ungekannten Ausmaßes.

Das sei aber nicht angebracht, kritisiert Edith Blaschitz vom Departement für Kunst- und Kulturwissenschaften an der Donau-Universität Krems: "Wenn man diese breite Diskussion verfolgt, hat man das Gefühl, als ob die Gesellschaft das erste Mal mit so einer Situation konfrontiert wäre. Dabei hat es in den letzten Jahrhunderten immer wieder solche Migrationsbewegungen gegeben. In dieser Frage scheint ein ahistorisches Bewusstsein vorzuherrschen."

Blaschitz ist Mitglied des Forschungsnetzwerks Interdisziplinäre Regionalstudien (First). Im Zuge der Zusammenarbeit wurde zuletzt ein Sammelband publiziert, der aufzeigt, wie Österreich mit großen Migrationsbewegungen der vergangenen Jahrhunderte umgegangen ist. Die Herausgeberin Rita Garstenauer vom Zentrum für Migrationsforschung in St. Pölten hofft mit den hier versammelten historischen Untersuchungen großer Einwanderungsbewegungen nach Österreich der letzten 300 Jahre die aktuelle aufgeheizte Debatte etwas zu beruhigen: "Wenn man das derzeitige Weltgeschehen mit historischer Distanz ansieht, versteht man mehr und kann die Situation mit einem ruhigeren Blick betrachten."

Die publizierten Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass sich beim Umgang mit einzelnen Massenfluchtbewegungen durchaus konstante Entwicklungen abzeichnen: Einwanderer wie französische Revolutionsemigranten oder bosnische Flüchtlinge während des Balkankriegs wurden nach ihrer Ankunft als Notleidende von der Bevölkerung freundlich aufgenommen und versorgt.

Zu Konfliktsituationen kam es meistens erst anschließend – wenn es darum ging, die Flüchtlinge vor Ort gesellschaftlich zu integrieren. Das bedeutete vor allem, den Zugewanderten eine wirtschaftliche Existenz zu ermöglichen. Garstenauer: "Das ist nicht leicht, weil an diesem Prozess verschiedene gesellschaftliche und politische Akteure mit unterschiedlichen Interessen beteiligt sind."

Schwierige Prozesse

Mit der Herausbildung des modernen Staates sei dieser Verhandlungsprozess sogar noch schwieriger geworden: Während in vergangenen Jahrhunderten lokale Verwaltungen sich leichter den Kontrollbestrebungen der Staatsmacht widersetzen und etwa mit Arbeitserlaubnissen Flüchtlingen Zugang zum regionalen Wirtschaftsleben ermöglichen konnten, sei das heute nicht mehr möglich: "Diese Rechtevergabe ist im modernen Staat zentralisiert." Auf eine weitere Verschiebung in diesem Zusammenhang weist Mitherausgeber Börries Kuzmany vom Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichteforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) hin: "Die kulturelle Integration, über die heute so viel gesprochen wird, war damals gar nicht so wichtig wie die wirtschaftliche. Man war vor allem daran interessiert, mit möglichst wenig finanziellen Mitteln für die Flüchtlinge aufkommen zu müssen."

Ohnehin stehe eine derartige kulturelle Integration gar nicht in österreichischer Tradition: Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern sei das Habsburgerreich weniger daran interessiert, eine konfessionelle Homogenität herzustellen. Stattdessen ließ man eher die Zuwanderung anderer Religionsgruppen zu, um Gebiete zu erschließen oder entvölkerte Regionen neu zu beleben.

Da Migration häufig mit Vertreibung zusammenhängt, stehen Fluchtbewegungen meist in direkter Verbindung mit Kriegshandlungen. Garstenauer verweist dabei darauf, dass erstaunlicherweise gerade Flüchtlinge aus verfeindeten Staaten bereitwilliger aufgenommen wurden.

Das Kalkül dahinter lautet, den Feind zu delegitimieren und sich als das vermeintlich "bessere" Land zu präsentieren. So sei insbesondere während das Kalten Kriegs die Aufnahmebereitschaft besonders hoch gewesen, weil sich das offiziell neutrale Österreich in der Praxis als sicherer Hafen für Verfolgte des sowjetischen Regimes verstanden hat.

Garstenauer und Kuzmany betonen aber, dass Migration und Integration nicht immer so reibungslos verlaufen seien, wie es in der Nachschau vielleicht den Anschein habe. Dabei verweisen sie auf eine fatale Kompetenzballung im Ersten Weltkrieg: Für Flüchtlingsangelegenheiten war seinerzeit das österreichische Militär zuständig, das zahlreiche der jüdischen Flüchtlinge aus Galizien eben wieder dorthin zurückdeportieren ließ.

Wer er es dennoch schaffte, im Land zu bleiben, besaß nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918 keine anerkannte Nationalität: Eine Einbürgerung wurde den meisten Ostflüchtlingen jedoch in der Ersten Republik ebenfalls verwehrt. Diese Staaten- und somit Rechtlosen gehörten dann auch zu den ersten Menschen, die der Verfolgung durch die Nationalsozialisten nach 1938 zum Opfer fielen.

"Früher war eben nicht alles besser", gibt Kuzmany zu bedenken. "Uns ist es aber wichtig, im Kontext der aktuellen Zuwanderung zu zeigen, dass es für Österreich nichts Neues ist, mit einer solchen Konstellation konfrontiert zu sein. Ein Gefühl der Überforderung ist dabei ganz normal, aber grundsätzlich gilt, einen kühlen Kopf zu bewahren. Weiter ging es immer irgendwie." (Johannes Lau, 21.4.2018)