Wie ein dünnes, am Ende weich zusammengefaltetes Blatt Papier ragt die Chapel of Valley in der Provinz Shandong, auf halbem Wege zwischen Peking und Schanghai, 45 Meter hoch in den Himmel. An der schmalsten Stelle ist der Zugang dramatische 130 Zentimeter breit. Während die meterdicken Betonwände an der Basis in dauerschwarzen Schatten gehüllt sind, fallen von oben Lichtschleier nach unten, ehe sich der Raum am Ende weitet und für eine andächtige Kapelle Platz macht.

"Ob es da jemals hineinregnen wird? Nein, das glaube ich nicht", sagt Junya Ishigami, während er in der Fondation Cartier, einer gläsernen Ausstellungshalle inmitten eines verwunschenen Pariser Gartens vor dem verkleinerten Modell seiner so überirdisch schönen Kapelle steht.

"Die Öffnung im Himmel ist so schmal, und die Wände sind so hoch und so tief, dass der im Wind verwehte Regen früher oder später auf die Betonoberfläche treffen und dort vom massiven Baustoff absorbiert werden wird. Das einzige Medium, das den Weg bis ganz nach unten finden wird, ist ein Hauch Sonnenlicht."

Die Kapelle im chinesischen Shandong besteht aus einer einzigen gebogenen Betonschale, die 45 Meter hoch in den Himmel ragt
Foto/Rendering: Junya Ishigami + Associates

Am liebsten würde man sich jetzt auf winzige Hamstergröße schrumpfen, um in das verkleinerte, rund sechs Meter hohe Gipsmodell der Kapelle hineinzukriechen, so verlockend ist der Lichtschimmer, der aus dem nur wenige Zentimeter breiten Spalt herausdringt.

"Mich fasziniert dieses felsige Tal in Shandong so sehr", sagt Ishigami, "dass ich die Kraft und Energie der Natur direkt in meine Architektur einfließen lassen wollte." Derzeit befindet sich die Kapelle (siehe Renderings) in Bau. In zwei Jahren soll das von der öffentlichen Hand beauftragte Projekt feierlich eröffnet werden.

Im Nichts auflösen

Junya Ishigami, eine hagere Gestalt in schwarzen Gewändern, meistens mit einem breitkrempigen Hut, ist der neue Shooting-Star aus Japan. Früher arbeitete der 44-Jährige bei Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa im Pritzker-Preis-gekrönten Architekturbüro SANAA.

Seit wenigen Jahren ist der in Tokio lebende Gestalter selbstständig tätig und überrascht die Szene mit asketischen, minimalistischen, sich fast im Nichts auflösenden Projekten in China, Japan und den Niederlanden. Weitere Bauvorhaben stehen in Moskau, Sydney und Kopenhagen in den Startlöchern.

"Die meisten Architekten folgen einem gewissen Stil", sagt Ishigami. "Mein Wunsch ist es, mich von allen Stilen und Erwartungen zu lösen und im Denken frei zu sein. Vielleicht ist das der Grund für die Leichtigkeit, die viele Menschen in meinen Häusern erkennen."

Zubau beim Kanagawa Institute of Technology in Japan. Die Halle wird von 305 schlanken Stahlstützen getragen.
Foto/Rendering: Junya Ishigami + Associates

Eines der leichtesten und konstruktiv radikalsten Gebäude in seinem bislang noch recht kleinen OEuvre ist der Zubau beim Kanagawa Institute of Technology (KAIT) in Japan (siehe Foto). Die 2000 Quadratmeter große und rund fünf Meter hohe Glaskiste wird von hauchdünnen, stählernen Säulen getragen, die dem Institutsgebäude seine unverwechselbare, himmlische Atmosphäre verleihen.

Keine zwei der 305 Säulen sind gleich. Der mit weißen Möbeln, Vintage-Stücken und hunderten Pflanzen bestückte Raum ist die perfekte Manifestation von Ishigamis größter Prämisse: "Es gibt nichts Schöneres als Leere. Ich will mit meinen Häusern einfach nur die Leere einfangen."

Die größte Hilfe bei seinem Unterfangen ist ihm die Natur. Im Besucherzentrum des Groot-Vijversburg-Parks im holländischen Tytsjerk setzte er einen gläsernen Bumerang zwischen Wasser, Wiese und Kies.

Das House of Peace im Hafen von Kopenhagen ist eine dünne Betonschale über dem Wasser.
Foto/Rendering: Junya Ishigami + Associates

Im House with Plants für eine Tokioter Jungfamilie löste er den Wohnbereich in runde Estrichplatten auf, die wie organische Schollen in einem Meer aus Erde und Wald zu schwimmen scheinen. Zwischen Stühlen, Lustern und Waschmaschinen ragen Farne, Büsche und Birken in die Höhe.

Im Hafen von Kopenhagen plant er das House of Peace, eine hauchdünne Betonschale, die wie eine unterschipperbare Wolke über dem Wasser schweben wird. In Tokio experimentiert er mit einer dreidimensionalen Hängekonstruktion aus zwölf Millimeter dickem Stahl, unter der ein teils sonniger, teils beschatteter Freibereich entstehen soll.

"Ich will die Kraft und Energie der Natur direkt in meine Architektur einfließen lassen." Junya Ishigami in der Ausstellungshalle der Fondation Cartier in Paris. Im Vordergrund ist das Modell seines Waldkindergartens in Ostchina zu sehen.
Foto: Renaud Monfourny, Courtesy of Fondation Cartier

Und in Rizhao Bailuwan im Osten Chinas entwickelt er gerade einen Waldkindergarten (siehe Foto) aus Glas und frei geformten Betondächern, in dem die Grenzen zwischen innen und außen, zwischen Natur und Architektur Stück für Stück aufgelöst werden.

"Planung hat immer etwas mit Kontrolle, mit Sieg über die Natur zu tun", sagt Ishigami, der mit der Ausstellung "Freeing Architecture" in der Fondation Cartier seine bislang größte und umfangreichste Personale erhält. "Mich aber interessiert es, die Planung an einem gewissen Punkt zu stoppen und die Verantwortung wieder abzugeben. Mal sehen, was passiert!"

Er steht vor dem Modell einer höhlenartigen Fred-Feuerstein-Behausung mit Tischen, Stühlen und herzig zusammengebauten Regalen mit – wie er in eindringlichen Worten betont – französischen Kochbüchern. Es ist das Modell eines rund 300 Quadratmeter großen Wohn- und Gewerbehauses für ein japanisches Ehepaar, das zwischen den Wohnräumen ein kleines französisches Restaurant betreiben wird.

Beim Wohnhaus und Restaurant in Japan ist die Architektur nichts anderes als der Positivabdruck der unterirdischen Natur.
Foto/Rendering: Junya Ishigami + Associates

Abdruck der Natur

"Meistens bauen wir ein Gebäude, indem wir das Fundament ausheben und in der Grube eine künstliche, genau geplante und exakt berechnete Konstruktion errichten", sagt der Architekt, der mit dem Bau des Restaurants – der Rohbau ist bereits abgeschlossen – an die Archaik der Steinzeit anknüpft. "Hier aber habe ich von den Bauarbeitern Löcher ausgraben lassen, die wir mit Bewehrungskörben gefüllt und anschließend mit Beton ausgegossen haben. Auf diese Weise haben wir die Erde als Schalung genutzt."

Am Ende wurde das darunter befindliche Erdreich entfernt, die Oberfläche geputzt und die gesamte Konstruktion rundum verglast. Das Resultat ist eine räumliche Skulptur, in der die unterirdische Natur als betonierter Positivabdruck weiterlebt.

Während Ishigami zu Beginn seiner Karriere nach Leichtigkeit und Luftigkeit, nach der Schönheit dünner Baumstämme und zart im Wind tanzender Blätter strebte, so scheint der Baumeister der Leere in seinen jüngsten Projekten zunehmend von der Tiefe, von den unterirdischen Kräften angezogen zu werden.

In Tokio plant Junya Ishigami einen Open-Air-Pavillon, indem er eine nur zwölf Millimeter dicke Stahlplatte über einer Freifläche schweben lässt.
Foto/Rendering: Junya Ishigami + Associates

"Ich spüre, wie es mich mehr und mehr reizt, das unter der Erde Liegende zu befreien und das Unsichtbare sichtbar zu machen." Ein Moment der Stille. Der Mann mit Hut lächelt etwas verlegen, ganz so, als wäre er im Begriff, sein größtes Geheimnis preiszugeben. "Mich fasziniert Mutter Natur. Und hier unten im Verborgenen, habe ich das Gefühl, liegen ihre größten Schätze und wichtigsten Informationen gespeichert."

Von seinem allergrößten Wunsch für die Zukunft ist der 44-jährige Shooting-Star, um den sich gerade Bauherren aus aller Welt reißen und der sich selbst als teurer, aber leistbarer Architekt bezeichnet, so weit entfernt wie noch nie. "Ich sehne mich nach Ruhe." Und lacht. "Ich weiß, man kann nicht alles haben." (Wojciech Czaja, RONDO Open Haus, 1.5.2018)

Fondation Cartier pour l'art contemporain

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