Die Berichterstattung über die Straßburg-Rede des französischen Staatspräsidenten vermittelt den Eindruck, hier kämpft ein guter Europäer – Emmanuel Macron – allein gegen eine Phalanx von bösen oder bloß zögerlichen Europäern für die dringend notwendige grundlegende Reform der Union. Mit etwas mehr politischem Willen, so die Botschaft, wäre diese längst auf dem Weg.

Die Wirklichkeit ist komplizierter. So wohltuend Macrons Worte auch für all jene klingen, die sich mehr Europa und weniger Nationalismus wünschen, es gibt gute Gründe, warum solche Reformvorstöße meist im Sande verlaufen. Denn jede Vertiefung der EU bedeutet auch einen Verzicht auf nationale Souveränität und demokratische Kontrolle über die eigene Politik. Und dazu sind auch engagierte Proeuropäer oft nicht bereit.

Würde ein mächtiger EU-Finanzminister tatsächlich eine gemeinsame Budgetpolitik vorgeben, könnten nationale Parlamente nicht mehr allein über Steuern und Ausgaben entscheiden. Das würde nicht nur hochverschuldete Staaten betreffen. Ein EU-Finanzminister könnte auch der Wiener Regierung ins Ruder greifen, etwa wenn sich die Prognose eines strukturellen – um Konjunktureffekte bereinigten – Nulldefizits nicht erfüllt. Auch der mangelnde Reformeifer im Pensionssystem ist EU-Experten schon lange ein Dorn im Auge. Ein Brüsseler Finanzchef könnte hier höchst unpopuläre Schritte fordern.

Doch ohne ein solches Eingriffsrecht kommt für Deutschland auch keine Vergemeinschaftung der Schulden durch Eurobonds infrage – weder für CDU noch für SPD. Eurobonds würden zwar den Euro stabiler machen, aber auf die Gefahr hin, dass Steuerzahler in sparsam haushaltenden Staaten dann für exzessive Ausgaben in anderen Ländern aufkommen müssten. An diesem Dilemma – dass nur ein großer Schritt in Richtung eines europäischen Bundesstaats den Euro wirklich krisenfest machen kann – ist bisher jede Reform der Währungsunion gescheitert.

In Österreich wiederum wird bereits eine EU-weite Zulassung von Glyphosat als Bedrohung für die nationale Umwelt und Gesundheit angesehen, von genverändertem Saatgut gar nicht zu sprechen. Aber auch weniger emotional belastete Vorschläge stoßen oft auf Widerstand. Dass Polizeibehörden im Kampf gegen Terrorismus und Cybercrime nicht durch Grenzen behindert werden sollen, ist klar. Aber will man wirklich, wie es die EU-Kommission nun vorschlägt, dass die bulgarische Polizei direkt auf Handydaten österreichischer Mobilfunkbetreiber zugreifen kann, ohne hiesige Behörden einzuschalten? Und wie die europäische Öffentlichkeit auf Vorstöße für eine einheitliche Asyl- und Migrationspolitik reagiert, hat man in den vergangenen Jahren nur allzu gut sehen können. Die Opposition dazu kam nicht nur aus den Ostländern.

Der Grundkonflikt bleibt: Angesichts der Sachzwänge müsste Europa viel enger zusammenrücken, denn fast alle Probleme sind heute grenzüberschreitend. Aber die Stimmung der Bürger geht in die andere Richtung. Greift die EU dennoch irgendwo ein, heißt es, Eliten würden über die Köpfe der Menschen hinwegregieren. Tut sie es nicht, dann ist Europa schuld an den ungelösten Problemen. Der EU-skeptische Spin der Regierung Kurz ist hier typisch, aber anderswo ist es nicht viel besser – auch nicht in Frankreich. An diesem Dilemma kann auch Macrons Rhetorik nichts ändern. (Eric Frey, 18.4.2018)