Wolfram Eilenberger, "Zeit der Zauberer". € 25,80 / 431 Seiten. Klett Cotta 2018

Cover: Klett Cotta

Wien – Toni, die aus vornehmem Wiener Haus stammende Gattin des bekannten deutschen Philosophen Ernst Cassirer (1874–1945), der seine Aufgabe darin sah, über die Zeit hinaus und gegen sie zu denken, hatte kein gutes Gefühl, als ihr Mann auf Einladung des Hamburger Senates am 11. August 1928 die Rede zur Zehnjahresfeier der Weimarer Verfassung hielt.

Sie spürte, dass sich nicht erst seit dem Hyperinflationsjahr 1923 eine soziale Massenkarambolage anbahnte, und hielt es angesichts des politischen Klimas für gefährlich, sich derart zu exponieren. Insbesondere als deutscher Jude.

Cassirer, der hochdekorierte Uni-Professor, der später im Exil schreiben wird, es gelte dem Gegner ins Angesicht zu sehen, um zu wissen, wie er zu bekämpfen sei, focht das wenig an. Er hielt die Rede. Nicht, ohne darauf hinzuweisen, dass es sich bei der fragilen Weimarer Republik, die 1933 untergehen wird und schon 1928 zehn Kanzler verschlissen hatte, mitnichten um einen Kollateralschaden des Ersten Weltkrieges handle, auch um keinen "Fremdling" oder einen "äußeren Eindringling in die deutsche Idee", sondern vielmehr um ein Projekt, das dazu angetan sei, in eine bessere Zukunft zu führen.

Eine neue Welt

Es sind Episoden wie diese, angelegt als kleine Vignetten, in denen Biografie, Zeit-, Philosophie- und Sozialgeschichte ineinandergreifen, die Wolfram Eilenbergers Buch Zeit der Zauberer ungemein lesenswert machen. Und aktuell.

Denn der 450 Seiten starke Band mit dem Untertitel Das große Jahrzehnt der Philosophie. 1919–1929 verfügt gerade heute über durchaus therapeutisches Interventionspotenzial, indem er neben dem Versuch einiger Philosophen, die Welt nach der Kriegskatastrophe neu zu denken, auch eine Krise des öffentlichen Sprachgebrauchs und eine Verwirrung der Begriffe skizziert, die einem heute bekannt vorkommt.

Der Begriff der "Sprache", ihres Urgrunds und Zwecks ist auch für die drei weiteren "Zauberer", mit denen sich Eilenberger befasst, von zentraler Bedeutung. Der eine, Ludwig Wittgenstein (1889–1951) hat 1918 seinen Tractatus logico-philosophicus in Kriegsgefangenschaft abgeschlossen und daraufhin als Erbe einer der reichsten Industriellenfamilien des Kontinents sein gesamtes Vermögen seinen Geschwistern überschrieben. Er glaubte, sämtliche Probleme des Denkens "im Wesentlichen gelöst zu haben", wird Lehrer auf dem Land und erst spät zur Philosophie zurückfinden.

Der Zweite, ein Küstersohn aus dem Badischen, ist 1918 mit dem Ziel, Karrierephilosoph zu werden, von der Front nach Freiburg zurückgekehrt. 1933 wird Martin Heidegger (1889–1976), von dem seine Schülerin und Geliebte Hannah Arendt sagte, er habe nicht einen schlechten, sondern gar keinen Charakter, als Rektor der Uni Freiburg seine berüchtigte Rede halten – ganz im Sinne der nationalsozialistischen Machthaber.

Walter Benjamin (1892–1940) schließlich hatte mit Heidegger, den er nicht nur wegen dessen "Rustikalstil der Sprache" hasste, in Freiburg studiert. Dem Krieg war er zwar durch ein vorgetäuschtes Herzleiden entgangen, sein Leben aber sollte krisenhaft bleiben. Er ist der ausgesetzteste der vier Zauberer, herumgetrieben zwischen den Disziplinen Philosophie, Übersetzung und Kulturkritik wird er 1940, am Ende seiner Kraft, auf der Flucht vor den Nazis nach zahllosen standhaften Irrgängen in den Freitod gehen.

Sein und Zeit

Eilenberger setzt sich in Zeit der Zauberer meinungsstark, aber nie psychologisierend auch mit wichtigen, in den 1920er-Jahren entstandenen Texten seiner Protagonisten auseinander. Lesen lässt sich seine Abhandlung einerseits als kundige Einführung in Wittgensteins Tractatus, Heideggers Sein und Zeit (1927), Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929) oder die wissenschaftlichen Arbeiten Benjamins.

Andererseits zeichnet der ehemalige Chefredakteur des Philosophie Magazins das Porträt einer vom Krieg sowie von Beschleunigung und technischen Innovationen (Auto, Radio, Telefon, erste Fluglinien) geprägten Dekade.

Das Buch endet mit der Davoser Disputation im März 1929 zwischen Cassirer als Anhänger eines gelehrten Konformismus und Heidegger, der die Philosophie zu revolutionieren gedenkt. Cassirers auf Kant und Goethe basiertes aufklärerisches Weltbild hielt stand. Nicht für lange, denn der Börsencrash im Oktober brachte eine Weltwirtschaftskrise, und er brachte die Nationalsozialisten, die bei den Reichstagswahlen im Mai desselben Jahres 2,59 Prozent erreicht hatten, wieder zurück ins Spiel.

"Was ist der Mensch?", "Wie soll man leben?", "Was ist Freiheit?", lauten Fragen, die Eilenbergers gut lesbares Buch aufwirft, für dessen Lektüre man sich Zeit lassen sollte. Die Frage übrigens, was das Ziel von Philosophie sei, beantwortete Wittgenstein einst recht kurz: "Der Fliege den Weg aus dem Fliegenglas zu zeigen." (Stefan Gmünder, 19.4.2018)