An der Bayerischen Staatsoper wurde Otto Schenks Version des "Rosenkavalier" beerdigt. Mit dem Widerstand von Fans kocht abermals die Diskussion ums Musiktheater hoch: Soll Oper museale Schönheit zelebrieren und allen Tendenzen zur inszenatorischen Modernisierung trotzen? Staatsoperndirektor Dominique Meyer etwa, der soeben seine Premierenpläne für die kommende Saison bekanntgab, denkt nicht daran, seine Klassiker wie "Tosca" (von 1958) und "Bohème" (von 1963) in Pension zu schicken.

Surreal aktuell: Henzes"Elegie für junge Liebende"am Theater an der Wien (li.). Finger weg von der Dame! Puccinis "Tosca", seit 1958 an der Wiener Staatsoper (re.).
Fotos: APA/WERNER KMETITSCH/PHOTOWERK, Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Für die Opernpension – von Daniel Ender

Die Oper ist eine Sehnsuchtswelt – ein idealer Ort des Schwelgens und des Träumens. Es geht auch darum, "in eine bessre Welt entrückt" zu werden, wie es in einem Schubert-Lied heißt. Das ist schon gut und auch richtig. Doch nicht zu verwechseln ist es mit der Sehnsucht mancher Besucher, in ihrem "Kunstgenuss" ja durch nichts irritiert – oder gar zum Nachdenken – gebracht zu werden.

Ist doch klar: Ohne ein Moment von Schönheit kann es Kunst nicht geben. Ästhetisierung, also Aufhebung ihrer Reflexe auf das Leben in ihrem eigenen Medium, ist ihr Prinzip. Wenn sie sich allerdings diesem verlockenden Prinzip ganz beugt, statt zugleich mit ihren jeweiligen Mitteln eine eigene Sphäre auszubilden, dann erstickt sie.

Besonders bei der Wiedergabe der großen, bekannten Opernschinken haben sich reichlich Gewohnheiten und Erwartungen entwickelt. Und selbige werden bisweilen mit einem "Originalzustand" verwechselt, der sich jedoch als Illusion erweist. Er gleich doch eher dem gut wienerischen "So hamma’s immer scho g’macht".

Sich dem Neuen stellen

Die Wiener Staatsoper, die per Gesetz auf ein "repräsentatives Repertoiretheater (…) mit umfassender Literatur" festgelegt und gleichzeitig zur "Einbeziehung zeitgenössischer künstlerischer Ausdrucksformen" verpflichtet ist, steht da vor einem besonderen Dilemma. Und jede Direktion muss sich ihm intensiv aufs Neue stellen.

Alle auf dem Spielplan stehenden Werke kann sie natürlich nicht ständig erneuern. Ebenso darf sie diese auch nicht vor sich hin rotten lassen, wie das noch vor einem guten Jahrzehnt durchaus geschah. Sie würde damit vollends zu jenem "Opernmuseum" werden, von dem berühmte Stockkonservative wie Komponist Richard Strauss und Opernerzähler Marcel Prawy einst träumten.

Selbst im Museum muss man sich allerdings stets einen eigenen Zugang schaffen. Und auch Musiktheaterwerke lassen sich dauerhaft nur lebendig halten, wenn sie jeweils aus der Gegenwart heraus tief verstanden werden. "Es ist für mich sehr traurig, dass da so ein großes Unverständnis besteht – der Wunsch nach nur einer richtigen Interpretation, möglichst noch aus der Zeit der Uraufführung", wie Regie-Altmeister und Provokateur Peter Konwitschny dem Standard einmal erklärte: Die Werke würden beginnen zu sprechen, wenn man sich "mit ihnen auseinandersetzt. Und sie sagen durchaus Unterschiedliches, je nachdem, zu welcher Zeit und an welchem Ort sie befragt werden."

Also: Es kann nicht darum gehen, stur nach einer bestimmten Ästhetik oder nach einer Dekon struktion von Meisterwerken zu verlangen. Es braucht allerdings immer wieder Alternativen zur weitverbreiteten und irgendwie unsterblichen Illusion, es ließe sich eine Tradition unversehrt aufrechterhalten, ohne dass sie ihre Kraft verliert.

Wenn man gerade im Theater sitzt, ist die Sehnsucht nach Schönheit vielleicht dann am größten, wenn man gerade weniger Schönes wahrnimmt. Und gerade das kann manchmal mehr Poesie in sich tragen als ein inszenierter Kostümschinken, der längst zu seiner eigenen Karikatur erstarrt ist. Also nicht zu viel abgesetzten Inszenierungen nachtrauern, das Neue ist auch schön. (Daniel Ender, 20.4.2018)

Wider die Opernpension – von Ljubiša Tošić

Was kürzlich in München geschah, hat Nostalgikern zu Recht Schmerz bereitet. Otto Schenks ehrwürdige Version von Strauss’ Rosenkavalier wurde nach 195 Aufführungen abgesetzt! Ja, das Neue ist wichtig und unaufhaltsam! Ja, Musiktheater muss mit der Gegenwart in den Dialog treten. Ja, ein subjektiver Regiezugang eröffnet neue Sichtweisen, erhellt verborgene Werkaspekte und lässt Oper zum Zeitgenossen werden.

Allerdings existiert auch ein Menschenrecht auf Nostalgie. Es muss gestattet sein, sich mit guten, alten Regiebekannten auf Zeitreise zu begeben, als Dirigenten wie Carlos Kleiber Mezzo sopranistinnen wie Brigitte Fassbaender inspirierten. Ebendies geschah im abgesetzten Rosenkavalier. Ihn umgibt damit historische Aura, er war Zeuge großer Momente. Nicht anders verhält es sich bei Legenden der Wiener Staatsoper.

Dort feiert gerade die Inszenierung von Puccinis Tosca 60. Geburtstag: An die 600-mal wurde der unverwüstliche Oldtimer (von Margarethe Wallmann) reaktiviert – auch zum unschätzbaren Vorteil für das Repertoiresystem des Hauses am Ring. Es ist ja verpflichtet, täglich zu spielen. Nur Inszenierungen wie Tosca oder Bohème (Regisseur Franco Zeffirelli, 1963) lassen das Repertoiresystem in seiner jetzigen Form praktikabel bleiben. Pragmatisch betrachtet, hilft dies auch der Moderne: Es braucht Raum und Zeit für das Erproben neue Inszenierungen. Eine Tosca, schnell einsetz- und aufbaubar, hilft dabei.

Übrigens tut dies auch Josef Gielens Madama Butterfly aus dem Jahr 1957 oder Otto Schenks 1968 entstandener Wiener Rosenkavalier, den die leidenden Münchner Opernfreunde im Rahmen einer Trostreise gerne besuchen können!

Also, lasst sie noch lange leben, diese Zeugen einer fernen Zeit! Diese Inszenierungen haben Großes erlebt. Sie sind kostbare pädagogisch wertvolle Museumsstücke einer verflossenen Ästhetik. Und: Es trägt unbedingt zur Pluralität eines großen Operntempels bei, wenn dieser sich der Tradition ebenso verpflichtet fühlt wie der notwendigen Moderne.

Intensität wichtig

Und überhaupt: Inszenierungen werden erst durch intensive Sängerdarsteller wesentlich: Wenn also Angela Gheorghiu in der alten Tosca erscheint, wird Musiktheater lebendig durch glaubwürdig vermittelte Zuneigung zum Maler Mario Cavaradossi. Und wenn der Mord an Polizeichef Scarpia zornige Unmittelbarkeit versprüht, kommt das Musiktheater seinem intensiven Wesen nahe. Eine modisch ausstaffierte Inszenierung ohne darstellerisches Potenzial hingegen wirkt tattriger als ein alter Regieschinken, in dem durch versierte Sänger plötzlich echtes Theaterleben auflodert.

Dass die Zeit unbarmherzig voranschreitet, ist klar. Was alt aussieht, kann aber als Vergleichshilfe dienen, das Neue schätzen zu lernen. Wieso nicht von der Tosca die alte und eine neue Version im Repertoire haben? So wie das Neue gehört auch das Alte zur Abwechslung. Ein Haus, das sich nur auf die Vergangenheit verlässt, ist schon in der Krise. Hin und wieder aber Nostalgie und Geschichtsunterricht sind gut und erhellend. Wenn etwa kommende Saison Piotr Beczala in der alten Tosca erscheint, weiß er: Hier, wo ich stehe, stand einst Luciano Pavarotti, es blitzten die Sterne, und schon ist der Tenor inspiriert. (Ljubiša Tošić, 20.4.2018)