Otto-Wagner-Spital, Pavillon Leopold, Onkologie, ausgiebiges Frühstück und ein mäßig freudvoller Blick aus dem Fenster.

Foto: Völker

Vor der Lungenstation im Otto-Wagner-Spital steht tatsächlich ein überdimensionaler Aschenbecher wie eine Skulptur. Viele Patienten kommen immer noch hinunter, um vor dem Haus eine zu rauchen.

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Die nächsten Tage waren zäh, drüben beim Serben, auch bei uns im Zimmer. Keine Aufmunterung.

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Ich glaube nicht an Gott, aber ich habe gebetet: nicht meditativ, sondern wild und laut, es war ein Bitten und ein Flehen, mitunter ein Winseln, ein Feilschen und Verhandeln.

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Ins Nachbarzimmer hatten sie einen alten Serben zum Sterben geschoben. Das löste am ganzen Gang Diskussionen aus, der Serbe hatte nämlich eine sehr umfangreiche Familie. Wenigstens vier Familienmitglieder hielten ständig Wache, in guten Stunden waren es 14. Und sie waren laut: Sie jammerten und weinten, beklagten den Tod, umso lauter, je näher er rückte. Der Serbe brauchte lange. Vier Tage lag er dort und starb, umringt von seiner Familie, die Tränen vergoss und Gott anrief. Er selbst gab keinen Mucks von sich.

Die anderen im Gang befanden das allesamt für eine Zumutung. Und auch hier: typisch Ausländer. Müssen die so laut sein? So viele sein? Diskussionen gab es auch in meinem Zimmer, gleich nebenan. Mir selbst ging die serbische Meute, ihr Raunen und Schluchzen, zwar auch schon gehörig auf die Nerven, aber ich argumentierte gegen die anderen: Ist doch schön, wenn man so viel Familie hat und die so intensiv Anteil nimmt. Wie traurig muss es sein, einsam und verlassen zu sterben. In unserem Zimmer kam immer nur jeweils einer zu Besuch, und an einem Tag nie mehr als drei hintereinander – wenn überhaupt. Und zum Sterben waren wir auch hier, bei den einen war es schon absehbar, bei anderen hatte es noch ein wenig Zeit.

Gestorben wird leise

In meinem Zimmer fehlte zwar der fremdenfeindliche Unterton der Diskussion, aber dennoch waren sich die Kollegen einig: Man drängt den Tod nicht so lautstark den anderen auf. Den behält man für sich, auch in der Gemeinschaft. Gestorben wird leise, erst recht in Wien. Diese These vertrat auch mein direkter Bettnachbar, der zwar Schotte war, aber schon gut im wienerischen Gemüt eingeübt war.

Mich hatte es durch einen Zufall zum Sterben verdammt. Eigentlich hatte ich nur eine Lungenentzündung. Im ersten Spital, einem Ordensspital, war ich überfordert, und die Ärzte waren es auch. Das Fieber ging nicht runter, die Entzündungswerte blieben trotz intensiver Antibiotika-Behandlung oben. Am dritten Tag schrieb ich in Gedanken meinen letzten Facebook-Eintrag: Ich bat meine Freunde und alle, die ich sonst noch erreichen würde, sich um meine Frau zu kümmern. Sie ist nämlich schwanger. Und sie braucht Hilfe und Unterstützung in jeder Form, wenn ich nicht mehr da bin. Ich hatte das Gefühl, ich würde sterben. Der Lungenfacharzt meinte schließlich, ich sei in einem anderen Spital vielleicht besser aufgehoben, er habe früher im Otto-Wagner-Spital gearbeitet, er könne mir dort ein Zimmer organisieren. Das tat er. Allerdings: Es war ein Bett auf der Onkologie. Das müsste ich wissen, sagte er, das sei nicht lustig dort: nur Krebs – aber es gebe die beste Behandlung.

Krebs, zum Teil ganz hässlich

Ich landete auf der Lungenstation, Onkologie, Pavillon Leopold des Otto-Wagner-Spitals. Die anderen Abteilungen waren voll mit Influenza-Patienten. Am zweiten Tag nahm mich die Ärztin zur Seite: Ich möge nicht vom Zustand der anderen auf meinen eigenen schließen. Ich habe eine Lungenentzündung. Alle anderen haben Krebs – zum Teil ganz hässlich, also unheilbar, in allen Stadien.

Als es mir ein wenig besser ging, spazierte ich durch den Gang und machte mich mit den anderen vertraut. Ich lernte sie kennen, alle Stadien. Die, die noch Hoffnung hatten, und die, denen sie längst genommen war. Und das Verrückteste: Die meisten von ihnen gingen immer noch hinunter, um vor dem Haus eine zu rauchen. Vor der Lungenstation im Otto-Wagner-Spital steht tatsächlich ein überdimensionaler Aschenbecher wie eine Skulptur.

Aus den Angeln gehoben

Eine Woche später war ich plötzlich richtig hier. Die Ärztin hatte eine Computertomografie angeordnet. Bei der Visite, als sie mit dem Ergebnis anrückte, war sie nervös. "Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie", sagte sie, "wir haben einen Tumor entdeckt, Sie haben Krebs." Ich blickte hinüber zu meinem Bettnachbarn, der gerade Löcher in die Luft starrte. Der hatte Krebs. Aber ich doch nicht. Dann stellte mir die Ärztin die eine Frage, die mich aus den Angeln hob: "Soll ich Ihnen psychologische Betreuung organisieren?"

Verdammt noch einmal, so schlecht konnte, so schlecht durfte es mir nicht gehen, dass ich psychologische Betreuung bräuchte. Nichts gegen Unterstützung, nichts gegen jene, die sie leisten, ich war schon mehrfach in Situationen, in denen ich Hilfe in Anspruch nahm – aber diese Frage der Ärztin hatte so etwas Endgültiges, so etwas Abschließendes. Ich lehnte ab.

Ein Jahr noch?

Meine Frau ist Allgemeinmedizinerin. Wir diskutierten den ersten Befund noch am selben Tag mit dem Oberarzt im Krankenhaus, dessen Stärke im Übrigen nicht sein einfühlsames Wesen ist. Bösartiger Tumor, sagte er, er ist sich zu 75 Prozent sicher. Lebenserwartung? Er wich aus, meine Frau schaute weg. Als ich allein war, googelte ich. Ich würde mein noch ungeborenes Kind nicht aufwachsen sehen. Ein Jahr noch? Am späten Nachmittag kam mich meine bereits erwachsene Tochter besuchen. Im Kaffeezimmer brach ich in Tränen aus, fiel ihr um den Hals. Sie weinte mit, hielt mich fest, sagte nichts.

Aber es kam nicht so schlimm. Bei mir nicht. Wieder zurück im Zimmer, sagte mein Bettnachbar, der Schotte: "Scheiß Krebs. Du bist noch jung. Das darf nicht sein." Er selbst hatte heute eher nebenbei erfahren, dass er Metastasen auch bereits im Kopf hatte. Und der Dritte im Zimmer war heute an die Morphium-Box angeschlossen worden, um seine Schmerzen erträglicher zu machen. Auf seine erstaunte Frage, dass dies doch süchtig machen würde, hatte der Arzt mit Unverständnis reagiert. Das spiele jetzt doch keine Rolle mehr.

Whisky, Brezerln, Gummibären

Der Schotte hatte Whisky, den er in unseren Zahnputzbechern ausschenkte, der Typ am Fenster mit der Morphium-Box hatte Brezerln. Ich hatte Gummibären, von denen mir meine Arbeitskollegen einen Riesenvorrat geschickt hatten. Es war keine Party, aber fast. Wir waren die Ritter der traurigen Gestalt, aber diesen Abend schissen wir auf das Sterben. Nur zum Rauchen ging ich nicht mit.

Die nächsten Tage waren zäh, drüben beim Serben, auch bei uns im Zimmer. Keine Aufmunterung. Meine Frau sagte: Gib nicht auf, niemals. Das habe sie gelernt, auch von ihrem Vater, der einen Gehirntumor hatte und immer noch lebt. Mir wurde inzwischen klar: Ich muss zum Friseur. Ich fragte herum, aber im ganzen Spital gab es offenbar keinen Friseur. Ich sekkierte Schwestern und Pfleger. Im Verdrängen war ich immer schon gut. Am Abend spielte ich mit meiner Tochter Karten. Sie ließ mich nicht gewinnen.

Halt durch das Salzstangerl

Diejenigen, die einem nah sind, rücken in einer solchen Situation noch näher: die Frau, mit der man alles und erst recht das Leben teilt, in lärmender Liebe und leiser Dankbarkeit, die Tochter, die längst ihr eigenes Leben lebt, aber plötzlich wieder da ist, als hätte sie sich nie auch nur einen Millimeter entfernt, die Eltern, besonders die Mutter. Man wird wieder Kind, so alt kann man gar nicht sein, sucht Hilfe, Unterstützung und Geborgenheit. Das Salzstangerl mit Salami und Gurkerl, das Mutti ins Spital mitbringt, gibt unglaublichen Halt. Und dann gibt es Freunde, die zu unmöglichsten Zeiten im Spital auftauchen.

Ich glaube nicht an Gott, aber ich habe gebetet: nicht meditativ, sondern wild und laut, es war ein Bitten und ein Flehen, mitunter ein Winseln, ein Feilschen und Verhandeln. Es dauerte fünf Tage, bis ein erstes, vorläufiges Ergebnis der Bronchoskopie vorlag. Von allen Krebsarten, die man in der Lunge haben kann, war diese offenbar die am wenigsten schlimme, so erklärten es mir die Ärzte, ein ganz seltener Krebs, macht nur ein Prozent aus, und man könne gut operieren. Sie würden mir den rechten unteren Lungenlappen entfernen, vielleicht auch noch den mittleren. Der Primar selbst würde operieren – in wenigen Tagen schon.

Kamm, Schere und der Tod

Ich rief meine Schwiegermutter in Bogenfeld in Kärnten an, sie müsse dringend nach Wien kommen, um mir die Haare zu schneiden, das kann sie. Im ganzen Spital gibt es keinen Friseur. Luise kam mit dem Zug nach Wien, rauschte um neun Uhr abends ins Spital herein, hatte Kamm und Schere mitgebracht. Die Schwestern hatten ein Abstellkammerl freigemacht. Luise schnitt mir die Haare ganz kurz. Sie versuchte, nicht zu weinen. Das gelang ihr, bis ich sie euphorisch umarmte und mich bedankte. Ich blickte in den Spiegel und sah dort den Tod. Er saß hinter meinen Augen. Aber ich wusste: Mit dem Haarschnitt würde ich jede Operation gewinnen.

Dreieinhalb Stunden hat der Primar geschnitten, letztlich musste er nur den unteren Lungenlappen entfernen. Der Tumor war vollständig draußen. Geheilt. Aus und vorbei. Keine Nachbehandlung, keine Bestrahlung, keine Chemo. Nur atmen. Die Lunge war dicht.

Ein Ratschlag zum Abschied

"Machen Sie was draus", sagte mir ein Arzt zum Abschied im Krankenhaus. Ich hatte dort auf verschiedenen Stationen viele Menschen kennengelernt, die weniger Glück haben – junge und alte. Die sich mit dem Tod arrangieren müssen. Ich habe noch ein bisschen Zeit. "Machen Sie was draus."

Jetzt sitz ich da und überlege, was ich draus machen soll. Muss ich etwas draus machen? Was hat sich verändert? Andere Dinge werden wichtig. Abgesehen davon, dass ich nicht mehr rauchen werde, blicke ich klarer. Auf die, die ich liebe, und auf meinen Sohn, der im Spätsommer zur Welt kommen wird. Was ich sonst noch ändern werde? Ich weiß es nicht. Ich denke viel drüber nach. Während ich meine Atemübungen mache und die Operationsnarbe mit einer Salbe einschmiere. Das Glück hat mich ganz schön unter Druck gesetzt. (Michael Völker, 21.4.2018)