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Heitere Prophetie eines weltzugewandten Zenmeisters: Felix Philipp Ingold.


Foto: Ayse Yavas / Keystone / Picturedesk

Vierundzwanzig Buchpublikationen allein in den letzten zehn Jahren, darunter Lyrikbände, umfangreiche Romane, die faszinierende tausendseitige Mischung aus Tagesprotokoll, Reflexion, Gedicht und Biografie, Leben & Werk, Sachbücher zur russischen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, Übersetzungen aus dem Französischen und Russischen, eine 500-seitige Anthologie russischer Dichtung aus zwei Jahrhunderten, dazu eine intensive Publizistik in Medien des deutschen Sprachraums erweisen: Der Schweizer Dichter, Erzähler, Übersetzer und literarische Gelehrte Felix Philipp Ingold gehört zu den zentralen Persönlichkeiten der zeitgenössischen europäischen Literatur und Dichtung.

Deshalb widmet ihm jetzt das Wiener Lyrikfestival Poliversale 2018 einen eigenen Abend, an dem er unter anderem den Sammelband Niemals keine Nachtmusik vorstellt. Die doppelte Verneinung seines Titels ist programmatisch: Widerspruch zur gängigen Erwartung, Gedichte müssten verständliche Botschaften mitteilen, und Betonung der Verwandtschaft der Dichtung zur Musik.

Ingold hat in seinem im vergangenen Jahr in der Neuen Zürcher Zeitung publizierten Lyrik-Plädoyer (Dichtung für alle!) auf eine Art von Differenz zwischen Sinn und Bedeutung aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, "dass Dichtung ihre Mitteilungsfunktion überbieten und dadurch eine sinnliche, auf Klang, Rhythmus und Metaphorik beruhende Erkenntnis ermöglichen" könne. In der informativen Nachbemerkung seines Buches nun setzt Ingold Ludwig Wittgensteins berühmtem Diktum von der Grenze der Sprache entgegen, dass sprachlich "ALLES zu fassen wäre, sofern Sprache nicht auf die gängige Funktion des Bedeutens beschränkt sei".

Radikale Sinndichtung

Man kann seine poetischen Gebilde, die einmal einer strengen Strophenform folgen, ein anderes Mal aus der Strophenform in Prosa umschlagen, dann wieder von vornherein als "poème en prose" figurieren, durchaus als radikale Epigrammatik – Sinndichtung – verstehen. Die Umschlagseffekte zwischen streng materialbezogener Behandlung von Wort- und Lautmaterial und Abstraktion auf der Bedeutungsebene kennen wir aus der Konkreten Poesie und der Lautpoesie, mit diesen spielen auch die zehn mehrteiligen Gedichtzyklen des Bandes.

Ingold setzt dabei eine Vielzahl von Techniken und Kniffen, darunter Anagramm, Anklang, Gleichklang von Worten bei gleichzeitigem Bedeutungsunterschied, Versprecher, Wortverwechslungen, Silbenwiederholungen (Stottern) lustvoll ins Werk (hier lässt sich sein reichlichst bestückter Werkzeugkasten nur abrisshaft skizzieren). Jedenfalls folgt er damit einer seiner weiteren Prämissen der Poesie, wonach im Gedicht die Form den Inhalt hervorzubringen habe, der Inhalt folglich das Sekundärprodukt der Wortwahl sei.

Diese Formarbeit verflicht er in den einzelnen Zyklen gleichsam aleatorisch mit der Entwicklung inhaltlicher Motive, zum Beispiel numerischer Ordnungssysteme in Alleins, verschiedener Arten der Zeitgliederung in Allezeit, der Spiegelung von Liebe und Krieg in antiken und zeitgenössischen Mythen in Erosantik.

Im Zyklus Alefbet umkreist Ingold die rückläufig angeordneten Buchstaben des hebräischen Alphabets mit kündender Wortbildlichkeit, die er aus der beschriebenen sprachlichen Formarbeit schöpft. Die in der hebräischen Zahlschrift festgelegten numerischen Werte der einzelnen Buchstaben sind ebenso ausgewiesen wie Symbol- und Bedeutungsfelder, denen sie entsprechen sollen.

Buchstabe und Zahl sind im kabbalistischen Verständnis Fundamente der Welt, die immanente Gleichung des einen an dem anderen eine Quelle endloser Anverwandlung. Der so geschaffene stete Wechsel der Bedeutungsfelder widerstrebt jeder end-gültigen Deutung. Die doppelte Verneinung kann man als eine mit diesem Zustand korrespondierende Sprachfigur verstehen.

Die zehn Zyklen von Ingolds Buch wechseln sich mit zehn einstrophigen Erzähl- und Betrachtungsgedichten ab, in denen unmittelbar, ohne vorausgesetzte Formentwicklung, zugleich schlüssige wie rätselhafte Denksätze formuliert sind: "Wen die Angst erwählt der hat plötzlich ein Gesicht" oder "Wir sind tatsächlich das wodurch der Tag sich verfinstert" oder "Das Unmögliche beginnt dort wo's alle Möglichkeiten gibt".

Den Band beschließt ein Hörstück für drei Stimmen, die uns wieder auf den Ausgangspunkt des Bandes, sein Generalmotto, verweisen: Immer wahr der Klang. Und tatsächlich! Es ist eine CD beigefügt: Alles, was in der Lektüre wie aus einer nach innen gerichteten spirituellen Sprachmethodik gewonnen scheinen mag, klingt nun wie eine feierliche und zugleich heitere Prophetie eines weltzugewandten Zenmeisters. (Kurt Neumann, 21.4.2018)