Die Vergangenheit wird nicht mehr überwunden, sie flutet die Gegenwart: Thomas Edlinger.

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Zunächst ist da einmal ein vages Gefühl. Eine Ahnung davon, dass alles immer so weitergeht. Immer neue Nachrichten trudeln auf dem Bildschirm ein. Parallel dazu sind die Fenster in diverse Welten geöffnet. Vielleicht lädt im Hintergrund ein Programm etwas her unter, das schon im Augenblick des Speicherns wieder vergessen sein wird. Der Klicktrieb ist mächtig und verwandelt Gestern, Heute und Morgen in ein Kontinuum.

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Digitales Unbewusstes: Das Leben online hat eine unablässige Datenverwertung unseres digitalen Doppelgängers in Gang gesetzt.
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24/7 ist nicht nur der Name von Supermärkten, sondern auch eine Chiffre für eine radikale Gleichgültigkeit der Zeichen, Menschen und Dinge. Containerhäfen kennen keinen Sleep-Modus, während Manager und andere optimierungssüchtige Self-Tracker mit asketischem Schlafverhalten prahlen und automatisierte Hochfrequenzbörsen auf Handelsvorteile in Sekundenbruchteilen spekulieren. Die digital hochgerüstete Gegenwart des Netzwerkkapitalismus erscheint übermächtig und endlos – genauso wie der endlose Krieg gegen den Terror. Dazu gesellen sich Vorstellungen von der endlosen Kommunikation, der endlosen Krise, aber auch der endlosen Ideologie der Krise – und das alles auf einem Planeten, dessen endliche Ressourcen uns immer deutlicher bewusst werden.

Es ist noch nicht so lange her, da verstand man die Gegenwart ganz anders, nämlich als Übergangsstadium in eine andere Zukunft. Morgen wird alles besser: Diese Losung war die Antwort auf das Rückzugsgefecht der Alten, die darauf beharrten, dass früher alles besser war. Heute ist die Zukunft als Utopie abgesagt. Viel öfter wird sie als Dystopie verstanden, voller (post)apokalyptischer Angstlust. Oder gleich als Verlängerung einer schlechten Gegenwart, die schon die Katastrophe ist, da sie uns Kipppunkte der Systemstabilität – etwa im Hinblick auf Finanzmärkte, Rohstoffreserven oder Klimaveränderungen – überschreiten lässt.

Doch wann fing diese so herrische Gegenwart eigentlich an? Man kennt Beschreibungen der Gegenwart etwa durch dehnbare Vorstellungen eines Zeitraums (2018, die Zehnerjahre, das amerikanische Jahrhundert), des Generationellen (wir Modernen, die Generation Selfie, die Generation Now), des Technologischen (Web 2.0, Industrie 4.0), des Politischen (das Regime des Neoliberalismus) und dergleichen mehr.

Wenn man aber Gegenwart nicht nur als Epoche, sondern auch als Präsenz des Augenblicks begreift, dann wird es notgedrungen widersprüchlich. Die Gegenwart bläht sich auf und scheint zugleich zu verschwinden. Sie hört nicht auf und ist doch nie wirklich begreifbar, da den Zeitgenossen die Möglichkeit der Distanz zu ihr abhandengekommen ist. Sie wächst nicht nur in die Breite, sondern auch in die Höhe, denn sie sammelt auch immer beliebigere Momente und Schnappschüsse des Jetzt!

Märchen des Fortschritts

Im Großmaßstab gilt der Zusammenbruch des realen Sozialismus 1989 als Zäsur für die Rede vom Ende der Geschichte. Doch die Posthistoire, die mit staatsmännischem Getöse den Sieg der nachgeschichtlichen Zeit in Form der liberalen Demokratie vermeldete, ist schon damals fragwürdig gewesen. Die Menschen waren schon zu jener Zeit über zwanzig Jahre nicht mehr auf dem Mond, und viele Entwürfe eines besseren Morgen ließen sich eher als Fluchtideen aus einer verbauten Gegenwart verstehen – wie etwa die afrofuturistische Aufforderung zum rückkehrenden Aufbruch in eine außerplanetarische, mythische Heimat. Auch das "No Future!" des Punks lag schon über ein Jahrzehnt zurück. Abseits der "wreckers of civilisation" in der Popkultur und einer seit dem Atomzeitalter in den Untergang verliebten Literatur- und Filmtradition gab es schon seit den bleiernen 70er-Jahren im Alltag der meisten Menschen immer weniger Anlass, dem Märchen des Fortschritts zu glauben.

Der Autor und Regisseur Alexander Kluge sprach 1985 vom Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit. Heute könnte man – mit Blick auf die verengte Zukunft und der On-off-Klickbeziehung der Vergangenheit mit der Gegenwart vielleicht sagen: Die Gegenwart hat sich zu Tode gesiegt, denn die anderen Zeiten kehren als Spuk zurück. "The past is nev er dead. It’s not even past", bemerkte William Faulkner 1951.

Ein gutes Beispiel für die Zombieexistenz des angeblich Abgehakten ist die Vehemenz, mit der momentan die Debatten um Fälle von Cultural Appropriation geführt werden. Die Wunden von Kolonialismus und Rassismus erscheinen im Licht des Vorwurfs der Amnesie von oben nicht nur als nicht geheilt, sondern klaffen als mit neuer Brisanz aufgeladene, eventuell sogar Traumata reaktivierende, juridisch verjährte Tatbestände wieder auf. Manche davon verdienen es fraglos, neu verhandelt zu werden; auch daran erinnern aus aktuellen Anlässen geborene Bewegungen wie Black Lives Matter. Andere aber wollen Vergangenheit umschreiben und zensurieren. Sie klopfen den Heroen der Vergangenheit auf die Finger: Dieses Gedicht war frauenfeindlich, jenes Bild zeugt vom Eurozentrismus der Kunst.

Besserwisserei und Nostalgie

Die Vergangenheit wird, so scheint es, nicht mehr überwunden. Sie vergeht nicht mehr, sondern flutet eine Gegenwart, die zwischen Besserwisserei und Nostalgie schwankt. Die retrofuturistischen Sehnsüchte der Vin tagedesignfans, die verlorenen Fetischsounds des Analogen im "hauntologischen" Pop oder auch die unheilvolle Macht der politischen Heimsuchungen aus der Vergangenheit zeugen davon. So kehren nicht nur der Nationalismus oder der Kalte Krieg, sondern auch die dazugehörigen Untergangsfantasien und die realen Überlebensvorbereitungen für den "day after" wieder zurück. Diese vom Archiv gespeiste, gefräßige Gegenwart will kulturell wichtiger sein als ein Kanon, als eine Klassik, als ein Gestern.

Kaum ein Museum kann es sich heute leisten, bloß zu bewahren, zu forschen und das Gesicherte zu zeigen. Ohne "zeitgenössische" Anbindung erscheinen auch Raffael und Rubens als verstaubt. Die Gegenwart hingegen ist per definitionem gut vernetzt. Sie will überall teilhaben und geteilt werden, kommentieren und kommentiert werden.

Aufgewühlte Gegenwart

Zugleich wird diese von Erinnerungswellen und aufgetürmten Jetzt!-Momenten aufgewühlte Gegenwart aber auch von einer algorithmisch prognostizierten Zukunft vorbestimmt. Was jetzt passiert, ist also ohne das Begehren nach versunkenen Reizen oder dem politischen Wunsch nach einer Neuverankerung in einer Tiefe der Vergangenheit genauso wenig denkbar wie ohne den Angriff der Futures und andere Risikogeschäfte auf die Finanzmärkte der Gegenwart. Endlose Gegenwart bedeutet im Kontext der Kapitalmärkte endlose Instabilität. "Das Gespenst des Kapitals kommt stets aus seiner eigenen Zukunft zurück", notiert Joseph Vogl.

Man kann diese Rückwirkung der Prognostik auf die vorausberechnende Gegenwart auch im Alltagsleben beobachten. Unser Leben online hat eine unablässige Datenverwertung unseres digitalen Doppelgängers in Gang gesetzt, der wie ein technologisches Unbewusstes mehr über unsere Datenkörper antizipieren kann als wir selbst. Das Regime des Algorithmus im Schatten bedeutet die Verhöhnung jenes Geists der Freiheit, die die Lockerungsübungen des kommunikativen Kapitalismus versprechen.

Gegen die kybernetische Aufrüstung des 21. Jahrhunderts hilft vielleicht nur die Sabotage. Das ist zumindest die Kernbotschaft der TV-Serie Black Mirror, in deren Signation der Bildschirm eines Smartphones mit Rissen durchzogen wird. Die Zukunft erscheint als Fortsetzung der Gegenwart mit verschärften Mitteln. Im künstlerischen Paralleluniversum des High-Trash-Experten Ryan Trecartin wiederum ist diese Zukunft schon da oder fast schon wieder vorbei: als Beschleunigung einer narzisstischen und vielleicht doch irgendwie geilen Gegenwart, die gegen die Wand des Internets gefahren wird.

Vielleicht lässt sich der Angriff der übrigen Zeiten auf die breite oder absolute Gegenwart daher auf diese Kurzformel bringen: Die Vergangenheit ist nicht totzukriegen, und die – viel eher bedrohliche als erstrebenswerte – Zukunft mischt sich ein. Und trotzdem oder gerade deswegen bläht sich die Gegenwart als Erfahrung immer mehr auf und erscheint unüberwindbar. Sie erhält Dauer und Härte. Um es sportlich zu sagen: Sie wirkt wie eine Nachspielzeit, in der sich die einen besser und die anderen schlechter einrichten. Nur weiß keiner genau, wann Schlusspfiff ist. (Thomas Edlinger, 21.4.2018)