Simon Strauß will mit anderen jungen Intellektuellen "an Europa arbeiten". Das tun sie bei Treffen in europäischen Orten abseits der Metropolen.

Foto: Heribert Corn

Sie sind gerade an der Schwelle, wo es langsam "ernst" wird im Leben: die Millennials. Einer von ihnen ist Simon Strauß. Mit seinem Buch "Sieben Nächte" schrieb der 29-jährige Deutsche eine Art Generationenmanifest. Er verordnet seinem Protagonisten S. vor dem 30. Geburtstag einen Übergangsritus, indem er ihn die sieben Todsünden auskosten lässt. Dass darin unter anderem auch die Rede von "Gemeinschaftsverlust als Selbstverlust" ist, katapultierte den jungen Autor, der den "deutschen Romantikern" zugerechnet wird, prompt in eine kontroverse Debatte über die "Neuen Rechten". Hier erzählt Simon Strauß, was er im echten Leben abseits des literarischen Zugriffs auf die Welt denkt.

STANDARD: Sie sagen, ein Kennzeichen Ihrer Generation scheine zu sein: "Wir fühlen uns politisch nicht mehr verantwortlich." Wieso?

Strauß: Wir haben nicht das Gefühl gehabt, durch ein historisches Ereignis existenziell herausgefordert zu sein und eine Aufgabe zu bekommen. Wer beim Fall der Mauer zwischen 20 und 30 war, hat diesen Hauch der Geschichte gefühlt und die große Verantwortung gefühlt, als historisches Subjekt tätig zu sein. Der 11. September war für uns vielleicht so ein Schlüsselmoment, aber das politische Problem, das dabei herausgekommen ist, nämlich der Terrorismus, ist sehr diffus. Es bleiben Besitzstandswahrung und der Rückzug ins Private. Wir konzentrieren uns ganz auf unser persönliches Leben, auf individuelle Ernährungsregeln und darauf, wohin wir möglichst umweltschonend in den Urlaub fahren.

STANDARD: Eine Ausnahme regiert Österreich. Unser Kanzler ist 31. Wie blicken Sie auf eine Karriere wie die von Sebastian Kurz, der nicht die Zeit, aber vermutlich auch keine Lust hat, sieben Nächte lang lustvoll den Todsünden zu frönen?

Strauß: Schade, sollte er einmal machen, würde ihm wahrscheinlich guttun. Wenn ich ihn mir anschaue – unabhängig von seiner politischen Agenda, da ist sicher manches Vernünftige dabei –, wie er seine politische Karriere verfolgt hat, schon von ganz früh an, ist mir da zu wenig Selbsterschütterung, Selbstbefragung, auch zu wenig existenzielle Erfahrung dabei. Ein Gegenbeispiel ist der von mir eher geschätzte junge Politiker Emmanuel Macron, der erst durch diese wahnsinnige Anstrengung des philosophischen Studiums gegangen ist. Da merkt man, der hatte schon einen anderen Initiationsmoment als jemand wie Kurz, der einfach eine Art Karrierist war und sehr geschickt und taktisch klug agierte. Für mich wirkt er komischerweise überhaupt nicht jung. Er hat nichts Jugendliches an sich, im Sinne von: Wir machen jetzt etwas anderes. Auch das Konservative ist bei ihm nichts Aufregendes, sondern mehr oder weniger genau abgeschaut von den Altvorderen: Wie muss man es machen, um erfolgreich zu sein.

STANDARD: Wenn Sie eine politische Aufgabe für die Generation 30 formulieren müssten, was wäre das?

Strauß: Ein wichtiges Thema ist ganz pragmatisch: die Wohnungspolitik. Welche psychologische Konsequenz hat das, wenn junge Leute, die in die Stadt kommen, das Gefühl haben, sie gehörten gar nicht richtig zu einer Stadtgesellschaft dazu, weil sie es sich nicht oder erst leisten können, wenn sie einen bestimmten Standard der kapitalistischen Karriere erfüllt haben – die Gefahr, die das für die kollektive Psyche einer Generation bedeutet, darf man nicht unterschätzen. Ich wundere mich, dass man das in der breiten Gesellschaft nicht als Thema aufgreift. Der ursprüngliche Impuls der 68er-Generation war ja auch einer der Wohnungsbesetzung. Das andere, brennende wichtige Thema ist eine Reskalierung der europäischen Idee, nicht im politischen, sondern geistig-kulturellen Sinne, dass wir eine neue Definition von Europa entwickeln müssen, weil die Gefahr eindeutig da ist, dass Europa sonst nur noch mit der EU, also negativ konnotiert ist. Zusammen mit ein paar jungen Intellektuellen habe ich eine Gruppe mit dem Namen "Arbeit an Europa" gegründet, die nach neuen Beschreibungsmodellen sucht.

STANDARD: Ein Thema, das den deutschen und österreichischen Wahlkampf dominiert hat, taucht da nicht auf: die Flüchtlingspolitik.

Strauß: Das ist eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft, die uns noch lange beschäftigen wird. Die Vorstellung, dass man das in drei, vier Jahren, nur weil man die Balkanroute geschlossen hat, lösen kann, ist ja wahnsinnig. Denn was klar sein muss: Neben der politischen braucht es eine psychologische Steuerung dieses Problems. Geflüchtete sind Menschen mit großteils schweren Biografien, aus ganz anderen Zusammenhängen kommend und mit sehr eigenen Vorstellungen von der Welt. Wir diskutieren immer nur: Wie viele sind es? Was für eine Obergrenze wollen wir? Alle reinlassen oder niemanden? Man muss sich viel stärker fragen: Was sind das für Menschen? Es wird große Konflikte geben, aber sie können auch belebend sein für uns als Gesellschaft, weil wir uns klar werden müssen, was das Eigene im Zusammenhang mit dem Anderen bedeutet. Da geht es nicht um ein strategisches Ausspielen von gegenseitigen Werten, sondern um ein staunendes Interesse am Fremdartigen, das einem als durchsäkularisierter Westler irgendwie gestrig erscheint, in Wahrheit aber viel Energiepotenzial haben könnte. Stichwort Religion. Es wird unsere Aufgabe sein, da eine Form der dynamischen Verständigung zu finden.

STANDARD: Da ist nicht nur die Politik gefragt. Sie möchten Politiker zwingen, "sich mit Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftern zu treffen und mit deren Ideen auseinanderzusetzen". Aber viele Künstler halten sich ja bewusst heraus?

Strauß: Künstler und Intellektuelle sollten sich meiner Meinung nach nicht in gleicher Weise mit Politik beschäftigen, wie Politiker das tun. Sie müssen anziehend wirken, indem sie die Themen der Gegenwart existenzieller fassen und sich vor allem mit Sprache beschäftigen. Bei Macron merkt man, was es bedeutet, wenn ein Politiker ein Gehör für die Nuancen von Sprache hat. Ich meine das ganz konkret: Beim Reden über die Flüchtlingskrise haben wir auch deswegen so ein Problem bekommen mit dem Auseinanderdriften der politischen Spektren und der Radikalisierung, weil keine dialektische Sprache gefunden wurde. Es müsste doch auch für Politiker möglich sein, eine Rede zu halten, die mit voller Wucht sagt: Das ist ein großes Problem, da sind Menschen, die haben Schrecken im Krieg erlebt, denen müssen wir helfen, also das Humanitäre stark zu machen, aber gleichzeitig auch zu sagen: Es wird eine Kraft anstrengung bedeuten, und wir müssen auch die Herausforderungen im Blick behalten, vor die die Migration etwa den Bildungs- und Sozialbereich stellt.

STANDARD: "Alles, was mit Ästhetik zusammenhängt, ist automatisch rechts, was mit Ethik zusammenhängt, ist automatisch links", sagten Sie einmal. Was meinen Sie damit?

Strauß: So beschreibe ich die landläufige Auffassung im Moment, dass man sagt: Politische Kunst muss immer eine tagespolitische Botschaft haben, einen ethischen Mehrwert, um etwas zu bedeuten. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem etwa viele Theater das Gefühl haben, sie müssten NGO-artige Gebilde sein, immer an der Speerspitze dessen, was gerade im tagespolitischen Spek trum als moralisch richtig verhandelt wird. Ich würde ja sagen, das ist Moral-links, nicht links im traditionellen Sinne, die haben ganz andere Fragen das Ganze, nicht nur die Einzelidentität betreffend. Das ist ja so interessant, dass die marxistisch gesinnten Linken heute mit ihrem Gestus eher mit den Konservativen oder den neuen Rechten Überschneidungspunkte haben. Ihr gemeinsamer Gegner scheint mehr und mehr eine moralpolitisch-globalisierungsaffine Linke, die meint, dass sie die Probleme löst, indem sie Sprache verändert oder abschleift.

STANDARD: Warum sollten Politiker ins Theater gehen?

Strauß: Weil sie im Theater, wenn es gut inszenierte Stücke sind, die Bedeutung von Gegenwelten für das kollektive Bewusstsein kennenlernen, aber auch immer sich selbst in einer anderen Gestalt sehen. Und was kommt dabei heraus? Eine gewisse Skepsis gegenüber der eigenen Handlungsmacht und die Vorstellung, worum es beim Menschsein vielleicht wirklich geht. Politiker müssen verstehen, dass Menschsein im 21. Jahrhundert nicht nur heißt: schnelles Internet, kundenfreundliche Bedienung, richtige Paragrafennummer etc. Es geht immer auch um Fragen der Mentalität, wie kann man eine Beruhigung des kollektiv aufgekratzten und von allen technischen Revolutionen enorm in Mitleidenschaft gezogenen menschlichen Geistes und Gefühls herstellen?

STANDARD: Angenommen, Sie könnten ein Stück auf den Spielplan des Burgtheaters setzen und wir würden die österreichische und die deutsche Regierung einladen: Welches würden Sie vorschlagen?

Strauß: Othello von Shakespeare. Wenn man es poppig sagen möchte: Da geht’s um Sexismus und Rassismus, die zwei zentralen Themen, die unser kollektives Bewusstsein im Moment dominieren. Aber man muss sich an das Stück auch richtig herantrauen und nicht alles so soft machen, dass man es auch in der ZiB oder der Tagesschau senden könnte. Die Aggression, die von dem Stück ausgeht, ist, dass es Zweifel im Zuschauerraum weckt: Bist du wirklich so gut, wie du denkst? Hast nicht auch du im Innersten dieses Böse in dir? Auch im Theater gilt: Die Dialektik als Geistesform muss wieder stärker ernst genommen werden, und nicht einfach das schnelle, das vorschnelle, das moralische Befriedigen, das wir jetzt häufig wahrnehmen. Wir sind eigentlich alle moralische Selbstbefriediger, und das ist keine besonders produktive Ausgangssituation für eine geistig interessante Gegenwart. (Lisa Nimmervoll, 21.4.2018)