Der wilde Streik großer Teile der Tuifly-Crew am 7. Oktober 2016 führte zu zahlreichen Flugausfällen, hier am Flughafen Hannover. Die betroffenen Passagiere werden nun doch entschädigt.

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Wien – Ein bemerkenswertes Urteil hat der Europäische Gerichtshof vergangene Woche in Causen zu Fluggastrechten (verbundene Rs C-195/17 ea – Krüsemann ea / Tuifly) getroffen. Im Oktober 2016 kam es nach Ankündigungen des Managements von Umstrukturierungsplänen beim deutschen Luftfahrtunternehmen Tuifly ohne Initiative des Betriebsrats zu ungewöhnlich vielen spontanen Krankenständen – bis zu 89 Prozent bei den Piloten und bis zu 62 Prozent beim Kabinenpersonal. Dieser "wilde Streik" führte zu zahlreichen Annullierungen und Flugverspätungen von drei Stunden und mehr.

In insgesamt 25 Verfahren klagten daraufhin Passagiere vor den Amtsgerichten Hannover und Düsseldorf auf Ausgleichsleistungen nach Art. 7 Fluggastrechte-Verordnung. Demnach stehen je nach Entfernung 250, 400 oder 600 Euro an Ausgleichsleistungen pro Fluggast zu. Tuifly lehnte die Zahlungen mit dem Verweis auf "außergewöhnliche Umstände" nach Artikel 5 Absatz 3 ab, die nach Natur und Ursache nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens und von ihm nicht zu beherrschen sind.

Unter solchen Umständen sind Fluglinien laut EuGH-Judikatur von der Pflicht zu Zahlungen von Ausgleichsleistungen befreit (Rs C-315/15). Der EuGH wurde schließlich von den Amtsgerichten im Wege von Vorabentscheidungsverfahren ersucht zu entscheiden, ob ein wilder Streik wie dieser als außergewöhnlicher Umstand qualifiziert werden kann.

Unüblich schnell

Ein Jahr später und nach einer mündlichen Verhandlung im Jänner hat zunächst am 12. April der Generalanwalt seine Schlussanträge vorgelegt. In diesen bejahte er einen wilden Streik außerhalb des gesetzlichen Rahmens als außergewöhnlichen Umstand. Nur fünf Tage später – unüblich schnell – fällte der EuGH sein Urteil. Gewöhnlich lässt sich der EuGH zwischen der Veröffentlichung der begründeten und vielfach dogmatisch fundierten Schlussanträge und seiner Entscheidung mindestens mehrere Monate Zeit.

Ein Grund für die Eile? Von den beim EuGH bisher eröffneten 161 Verfahren zur Fluggastrechte-VO und zum Montrealer Übereinkommen wurde rund die Hälfte nie entschieden. Das Vorabentscheidungsverfahren hängt als Zwischenverfahren stets vom nationalen Ausgangsverfahren ab; wird dieses vorzeitig erledigt, etwa durch die Anerkennung der Ansprüche durch das Luftfahrtunternehmen, wird in der Folge auch das EuGH-Verfahren beendet und gestrichen.

Der EuGH und die ihn befassenden nationalen Richter haben kaum eine Handhabe gegen diese Vorgehensweise, mit der drohende publikumswirksame Entscheidungen auf europäischer Ebene zu verhindern sind.

Teil der normalen Ausübung

Hier nun hat der EuGH offensichtlich einen Weg der äußerst raschen Entscheidungsfindung gewählt, um einer möglichen nationalen Erledigung zuvorzukommen. Auffallend ist dabei, dass das Urteil die Schlussanträge selbst nur im Urteilskopf erwähnt, sie aber inhaltlich nicht würdigt.

Bemerkenswert ist das Urteil auch wegen seines Ergebnisses, das man nach den Schlussanträgen nicht erwarten durfte: Konträr zu diesen haben die fünf Richter entschieden, dass Risiken aus Konflikten mit Mitarbeitern als Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens zu betrachten sind, der wilde Streik für das Unternehmen beherrschbar war und folglich der Rechtfertigungsgrund der außergewöhnlichen Umstände hier nicht besteht.

Konsequenz des Verfahrens ist, dass die betroffenen Passagiere grundsätzlich einen Anspruch auf Ausgleichsleistungen haben und der Schrecken vor Streiks wie auch vor EuGH-Entscheidungen nicht geringer wird. (Stephan Keiler, 24.4.2018)