Die Tatsache, dass sich der Pilz Matsutake nicht züchten lässt, sondern nur wild gedeiht, macht ihn besonders begehrt. In Japan ist er etwa als Geschenk beliebt, in China gilt er als Glückssymbol.

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Anna Tsing ist Anthropologin an der University of California in Santa Cruz.

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Anna Lowenhaupt Tsing, "Der Pilz am Ende der Welt". € 28,- / 448 Seiten. Matthes & Seitz, Berlin 2018

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In einem spartanisch-einsiedlerisch anmutenden Büro im Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin sitzt die Anthropologin Anna Tsing und studiert ein Dokument über den Mississippi. Ein paar Tage zuvor war sie noch in Wien, wo sie am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz (IFK) die deutsche Übersetzung ihres Buchs "Der Pilz am Ende der Welt" vorgestellt hat, nun ist sie für ein paar Tage hier und kann ein wenig durchatmen.

Die Forschungen zum Mississippi im Anthropozän – also in dem Erdzeitalter, das der Mensch mit seinen Einflüssen bestimmt – sind nicht ihre eigenen, aber neben ihrer intensiven Recherche- und Schreibarbeit ist Tsing auch noch vielfältig in akademischen Projekten vernetzt, in denen es im Wesentlichen darum geht, was der Mensch (als Gattung) mit dem Planeten macht. Und dann zum Beispiel mit dem Mississippi im Besonderen, der unter der petrochemischen Industrie im Golf von Mexiko, aber auch unter der Intensivlandwirtschaft in den Staaten leidet, die der mythische amerikanische Fluss durchquert.

Anna Lowenhaupt Tsing, wie ihr kompletter Name lautet, hat für ihre Pilz-Studie die ganze Welt mehrfach umrundet und ein weithin gepriesenes Werk geschrieben, das nicht zuletzt den Begriff der Interdisziplinarität noch einmal ein ganzes Stück erweitert. Sie geht von einem Pilz aus, der in jüngerer Zeit stark an Wert gewonnen hat, weil er in Japan immer schwerer zu finden ist: Der Matsutake lebt in Symbiose mit Baumwurzeln.

"Der Pilz hat oft eine größere Reichweite als der Baum mit seinen Wurzeln", sagt Tsing. "Man könnte sagen: Der Pilz geht für den Baum auf Nahrungssuche, und bekommt dafür Kohlehydrate zurück." Als Anthropologin ist Tsing auch Ökologin und Gesellschaftswissenschafterin. Sie erinnert sich noch genau daran, wie euphorisch sie reagierte, als sie zum ersten Mal von einer "mushroom sociology" hörte. Inzwischen weiß man sehr viel über die Soziologie der Pflanzen allgemein, "aber die Sozialwissenschafter lassen das meistens unbeachtet".

Geschenk und Glückssymbol

Der Matsutake steht in Anna Tsings Buch deswegen im Mittelpunkt, weil er sich auf so viele relevante Forschungsfelder beziehen lässt. "Er lässt sich nicht züchten, entzieht sich also der Massenproduktion, und interessanterweise hat er in Japan sogar einen höheren Stellenwert als Geschenk. Es geht oft gar nicht um den eigenen Genuss." Theorien der Gabe gehören traditionell zu den Kernüberlegungen der Anthropologie, hier stehen sie am Ende von verschlungenen Ernte- und Handelszusammenhängen.

Tsing hat zum Beispiel im chinesischen Yunnan recherchiert, aber auch in Oregon an der amerikanischen Westküste. "In China hatte der Matsutake lange Zeit keinen großen Stellenwert, inzwischen gilt er aber als Glückssymbol, wie man an den aufwendig geschmückten Jacken zum Beispiel bei vielen Menschen aus dem Volk der Yi sehen kann, einer Ethnie in Yunnan." Der Pilz wird dort für den Export gesammelt – wie auch in Amerika. Aus der Verwebung dieser Beobachtungen entwickelt Tsing eine alternative Theorie des Kapitalismus.

Sie hebt hervor, wie viel von der Wertschöpfung im weitesten Sinn von Rohstoffen abhängt, also von Dingen, die sich in der Welt vorfinden und nicht herstellbar sind. "Das kapitalistische System versucht, sich alles einzuverleiben. Aus dem 20. Jahrhundert gibt es immer noch die Vorstellung, dass das System global dazu führen wird, dass irgendwann alle Menschen eine geregelte Arbeit haben und die gleichen Dinge konsumieren werden. Wenn man sich die Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts ansieht, sieht man, dass prekäre Lebensformen wieder zunehmen."

Die Sammler des Matsutake-Pilzes in Oregeon haben häufig Migrationsgeschichten. Viele sind traumatisiert, auch sie lassen sich – wie der Pilz – nicht so leicht in die Rationalisierung der kapitalistischen Verwertungsakkumulation integrieren. Wenn der Matsutake in Japan einen Menschen glücklich macht, sieht man ihm seine Geschichte nicht mehr an. Tsing schreibt diese Geschichte und macht daraus eine Geschichte über das Ökosystem Erde, das von verschiedenen Logiken durchsetzt ist.

Den Wald lesen

Eine Kapitelüberschrift in "Der Pilz am Ende der Welt" lautet: Wissenschaft als Übersetzung. Man könnte Anna Tsings Forschungen auch als Vermittlungsarbeit zwischen unterschiedlichen Wissenschaftskulturen verstehen, wobei es nicht nur um nationale geht (japanische gegen amerikanische zum Beispiel), sondern auch um einen großen Trend in den Geistes- und Lebenswissenschaften der vergangenen Jahrzehnte.

Tsings akademische Heimat ist die University of Santa Cruz in Kalifornien, sie arbeitet aber auch beim Aura-Projekt der dänischen Universität Aarhus mit. Dort geht es darum, das Anthropozän in Form von "patches" verstehbar zu machen. Ein "patch" ist ein Bereich, in dem sich Wirkungen gut studieren lassen – das Mündungsgebiet des Mississippi wäre ein gutes Beispiel.

Für Tsing dreht es sich dabei immer um Übersetzung von Wissenschaft in Erzählung. Bei einem Vortrag im Haus der Kulturen der Welt in Berlin gibt sie weitere Beispiele für "patches", etwa die Blaubeeren, die im Sperrgebiet rund um Tschernobyl gesammelt werden. In Indonesien hat sie seinerzeit für eines ihrer bekanntesten Bücher geforscht und daraus eine Theorie der globalen Vernetzung entwickelt, die sie unter den Begriff "friction" gestellt hat.

Ein bestimmter Jargon, der vor allem die amerikanischen Cultural Studies prägt, ist auch bei ihr immer noch durchzuhören, aber sie füllt ihn mit dem Leben ihrer Beobachtungen und Lektüren. Sie "liest" den Wald, die Erzählungen der Sammler, die Distributionswege von Holz oder Pilzen. Das ist ein aufwendiges Arbeiten, und sie bedauert es sehr, dass die akademische Ausbildung in Europa mit der Definition dreijähriger Doktoratsfristen dieses Wechselspiel zwischen Theorie und Erfahrung behindert: "So bekommt man zwar kluge neue Interpretationen, aber wenn man wissen will, wie sich menschliche Tätigkeiten in Landschaften sedimentieren, muss man das Büro verlassen." (Bert Rebhandl, 23.4.2018)