Die Haupt- und Großstädte Europas erleben gegenwärtig einen Bevölkerungsboom. Auch Wien wächst stärker als Gesamtösterreich, sodass bereits von einer "zweiten Gründerzeit" gesprochen wird. Ähnlich wie damals im 19. Jahrhundert wird im heutigen Wien der Stadtraum umstrukturiert und neuer Wohnraum in großer Zahl geschaffen. Die Neuhinzuziehenden mit ihren verschiedenen Lebensstilen bringen auch neue Lebenspraktiken und Erwartungshaltungen. Was bedeutet das für das Miteinander in der Stadt?

Wien mit Stockholm und Amsterdam im Vergleich

Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts oder Herkunft entscheiden sich heute aus verschiedensten Gründen dazu, in der Stadt zu leben. Während die Zahl der Einwohner und somit die Vielfalt der Erwartungshaltungen steigen, bleibt die verfügbare Stadtfläche, die genutzt werden kann, aber gleich. Es kommt daher zu Interessensverschiebungen, Nutzungsveränderungen und Konflikten des urbanen Lebens auf verschiedenen Ebenen.

Wie wird das Zusammenleben in Wien in Zukunft sein, wenn immer mehr Menschen in die Stadt kommen?
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Städte gehen mit dieser Herausforderung unterschiedlich um. Während Wien eine Wohnraumoffensive unter Beibehaltung der sozialen Durchmischung verfolgt, versucht etwa Stockholm in Randlagen Stadtteile mit sozialem Zusammenhalt zu schaffen. Amsterdam wiederum will die individuelle Selbstverantwortung steigern, indem Aufgaben der öffentlichen Hand zur Verantwortung der Einzelpersonen werden, wie beispielsweise die Organisation und Finanzierung von Nachbarschaftstreffs. Letztlich stehen allerdings alle wachsenden Städte vor derselben Herausforderung: Wie gelingt es, ein möglichst konfliktarmes Miteinander in sich diversifizierenden Stadtteilen über alle Gruppen hinweg zu ermöglichen?

Das Risiko: Stadtteilentwicklung nicht unterstützen

Während Stadtpolitik und Stadtverwaltung oft integrative Stadtteile als Zielvorgabe formulieren, sind es vor allem Stadtteilinitiativen und aktive Bewohner, die das tatsächliche soziale Miteinander tagtäglich gestalten. Sogenannte Bottom-up-Initiativen, wie ein Nachbarschaftsgarten, zeigen eine deutlichere Auswirkung auf die individuelle Stadtteilzugehörigkeit als sogenannte Top-down-Maßnahmen. Selbstinitiierte Aktivitäten werden oftmals von (halb-)öffentlichen Akteuren gefördert und es steht die berechtigte Frage im Raum: Wie ist der Erfolg dieser Initiativen messbar?

Die direkte Wirkungsmessung ist schwierig und es sind vor allem Langzeiteffekte wie Kontinuität, Vertrauensbildung und das Wohlfühlen in einer Nachbarschaft, die hier in Betracht gezogen werden müssen. Qualitative Wirkungsmessung und Langzeiteffekte sind allerdings nur schwer kompatibel mit einer interessensbasierten Stadt(teil)politik in Zeiten angespannter öffentlicher Budgets. Das Risiko, weniger in die soziale Stadtteilentwicklung zu investieren, ist daher immanent.

Aller Anfang braucht Geduld und zahlreiche Unterstützer, so auch ein Nachbarschaftsgarten.
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Die Chance: Stadtteilzugehörigkeit stärken

Doch die Bedeutung gerade von unauffälligen "Orten der Begegnung" in der Nachbarschaft, wie kleine Parks oder Nahversorgungsgeschäfte, aber auch ein Straßenfest oder eben ein Nachbarschaftsgarten zeigen, dass gerade der "lange Atem" positive Auswirkungen auf ein stärkeres individuelles Gefühl der Stadtteilzugehörigkeit hat.

Dieses Durchhaltevermögen bezieht sich auf die "Ermöglicher" – wie öffentliche und politische Entscheidungsträger – ebenso wie auf aktive Bewohner. Nachbarschaftliches Miteinander entsteht nur dann, wenn es durch erstere gefördert und gestärkt wird, und wenn es Bewohner gibt, die nicht nur "organisieren", sondern auch teilhaben und Nachbarschaft leben.

Aktivitäten des täglichen Lebens bringen Nachbarn zusammen.
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Was es braucht: Teilhabemöglichkeit und Kooperation

Die persönliche Teilhabe und Teilnahme sei an dieser Stelle auch als Forderung an eine selbstbestimmte Stadtbewohnerschaft formuliert, die nachbarschaftliches Miteinander tatkräftig mitgestaltet. Im Vergleich zu anderen Städten hat hier Wien Nachholbedarf, denn zu sehr ist noch das Selbstverständnis des "Versorgtwerdens" manifestiert. Genau deshalb ist es wichtig, dass entstehende und bestehende Stadtteilinitiativen zur Stärkung eines nachbarschaftlichen Miteinanders verlässlich unterstützt werden. Und Unterstützung bedeutet nicht ausschließlich finanzielle Mittel.

Die Herausforderung für die Zukunft einer wachsenden Stadtbevölkerung wird vielmehr der Zugang und die Schaffung nutzbarer Stadtteilräume sein. In bestehenden Stadtteilen ist die Öffnung oder auch Mehrfachnutzung von bereits vorhandenen – aber vielleicht vergessenen – Freiräumen wichtig. In Neubaugebieten fällt die Versorgung mit neuen Stadtteilräumen etwas leichter, da bereits in der Planung Erdgeschosszonen und Freiräume berücksichtigt werden können. Dennoch braucht es da wie dort auch die Aneignung der Stadtteilräume durch Menschen, die sie beleben und die Nachbarschaft zum Mitmachen einladen. Somit sind am Ende wieder alle Akteure gefragt: öffentliche wie private, die das Miteinander in der sich verändernden Stadt gemeinsam erlernen wollen. (Yvonne Franz, 26.4.2018)