Jährlich gedenkt der Leiter der U-Bahn-Station Kasumigaseki gemeinsam mit seinen Mitarbeitern der Opfer des Saringasanschlags vom 20. März 1995. Es starben 13 Menschen, tausende wurden verletzt.

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23 Jahre nach dem Giftgasanschlag in einer Tokioter U-Bahn-Station steht Japans Regierung vor der Entscheidung, wann die Täter hingerichtet werden sollen. Anfang März haben die Behörden sieben der 13 Mitglieder der Endzeitsekte Aum Shinrikyo, die wegen des Anschlags und anderer Verbrechen zum Tode verurteilt worden sind, in Gefängnisse außerhalb von Tokio verlegt. Zuvor war das letzte Urteil in einem Aum-Prozess rechtskräftig geworden. Daher dürften die Todesurteile nun bald vollstreckt werden – in Japan geschieht dies durch Erhängen.

Doch die Terminwahl hängt stärker als üblich von politischen Erwägungen ab. Nach Ansicht von Amnesty International werden die Hinrichtungen vor dem Wechsel auf dem Kaiserthron im nächsten Jahr und den Olympischen Spielen 2020 in Tokio stattfinden. "Indem man 'negative' Geschichten vorher aus dem Weg räumt, wäre die kommende Feierstimmung nicht überschattet – so denkt man wohl", sagte Amnesty-Mitarbeiterin Hiroka Shoji. Dies bestätigte der Anwalt Takashi Yamaguchi: "Am Anfang einer neuen Kaiserepoche wären Hinrichtungen sicher nicht glücksbringend", meinte der Geschäftsführer der Japan Society for Cult Prevention and Recovery, einer Gruppe von Aum-Experten.

Neuwahlen drohen

Normalerweise finden Hinrichtungen in Japan in den Parlamentsferien statt. Damit will die Regierung jede politische Diskussion über die Todesstrafe vermeiden. Doch der nationalkonservative Premierminister Shinzo Abe könnte in Versuchung geraten, dieses ungeschriebene Gesetz zu missachten. Der 63-Jährige, der Japan seit Ende 2012 führt, ist wegen angeblicher Freunderlwirtschaft unter starken Druck geraten. Nach neuen Enthüllungen spekulierten japanische Medien über seinen baldigen Rücktritt. Durch die Hinrichtung der Aum-Täter könnte der Premier versuchen, von den Affären abzulenken und seine Popularität neu zu beleben. Einer seiner Berater brachte kürzlich eine vorgezogene Neuwahl im Juni ins Spiel.

Bei dem Anschlag am 20. März 1995 wurden 13 Menschen getötet und mehr als 6000 verletzt. Sektenführer Chizuo Matsumoto, bekannt als Shoko Asahara, hatte die Freisetzung von Saringas angeordnet, um eine Polizeirazzia gegen sein Hauptquartier am Berg Fuji zu verhindern. Daher dürfte der heute 63-jährige, blinde Guru, der seit zehn Jahren keinen Kontakt zur Außenwelt mehr hatte, zuerst hingerichtet werden. Für die übrigen zwölf zum Tode Verurteilten forderten die Aum-Experten der Japan Society for Cult Prevention and Recovery in einem Brief an Justizministerin Yoko Kamikawa die Umwandlung der Todesurteile in lebenslange Haftstrafen.

Terroristen verstehen

"Diese Täter wurden von Asahara manipuliert und benutzt", begründete der Anwalt Taro Takimoto, Vorstandsmitglied der Gruppe der Aum-Experten, den Schritt. Blieben sie am Leben, könnte die Gesellschaft anhand ihrer Erfahrungen lernen, wie Terrorismus entsteht und sich bekämpfen lässt. "Wir möchten wissen, warum sie sich inzwischen von Aum abgewandt haben und was sie geläutert hat", sagte Takimoto. Seine Haltung ist bemerkenswert: Der 61-jährige Anwalt gehörte früh zu den schärfsten Aum-Kritikern. Daher verübte die Sekte vier Attentate mit Botulin, dem Nervengas VX und Sarin auf ihn, jedoch ohne Erfolg. (Martin Fritz aus Tokio, 24.4.2018)