In Frankreich ist eine Debatte über den Koran entbrannt, nachdem in einem Manifest gegen Antisemitismus gefordert wurde, den Koran als "überholt" zu bezeichnen.

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Den Koran des Antisemitismus zu bezichtigen sei ein "kolossaler intellektueller Irrtum", sagt der Imam der Moschee von Bordeaux, Tareq Oubrou.

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Die Antwort fällt so deutlich aus wie der Appell. Am Wochenende hatten 300 Politiker wie Nicolas Sarkozy und Manuel Valls und Künstler wie Charles Aznavour und Gérard Depardieu einen Aufruf unterzeichnet, der vor dem neuen Antisemitismus in den Einwandererstädten warnt. Wobei der Text nicht um den Brei herumredet: Juden würden in den Einwanderervierteln Opfer einer "schleichenden ethnischen Säuberung" und liefen aufgrund der Polizeistatistik "25-mal mehr Gefahr als muslimische Bürger", angegriffen zu werden. Mitschuldig, so heißt es, sei der Koran, der "zum Mord und zur Bestrafung der Juden, Christen und Ungläubigen" anhalte. Die 300, unter denen wenige Muslime sind, fordern deshalb den Islam auf, den Koran als "überholt" zu bezeichnen.

Verfasst wurde dieses Manifest von Philippe Val, einem streitbaren Journalisten jüdischer Abstammung. Ein Mitunterzeichner, der Philosoph Pascal Bruckner, erklärte, es gehe nicht um die Stigmatisierung einer Religion, sondern um den "Aufstand der reformbereiten, liberalen und aufgeklärten Muslime".

"Naive Jugend"

Genau sie reagieren nun – allerdings auf ihre Weise. Dreißig Imame (von schätzungsweise 1.500 in Frankreich) bedauern in einem Aufruf in "Le Monde", dass der Islam in der Tat "in die Hände einer unwissenden, verstörten und passiven Jugend gerate". Diese naiven Jugendlichen seien selbst eine leichte Beute für "Ideologen", die mit terroristischer Absicht nicht zuletzt den theologischen Begriff des Märtyrertums pervertierten. Dabei habe der Prophet selber gesagt: "Der Muslim, der einem unschuldigen, mit den Muslimen in Frieden lebenden Menschen nach dem Leben trachtet, wird nie den Duft des Paradieses riechen."

Der Rektor der Pariser Großmoschee, Dalil Boubakeur, erklärte seinerseits, den französischen Muslimen und dem französischen Islam werde ein "ungerechter und verrückter Antisemitismusvorwurf" gemacht. Der Vorsteher des muslimischen Kultusrats in Frankreich (CFCM), Ahmet Ogras, nannte das Manifest einen "Unsinn", auch wenn niemand infrage stelle, dass "wir zusammen gegen den Antisemitismus kämpfen müssen".

Wirkung des Nahostkonflikts

Der Imam der Moschee von Bordeaux, Tareq Oubrou, ging am Dienstag konkret auf die Argumente des Manifests ein. Den Koran des Antisemitismus zu bezichtigen sei ein "kolossaler intellektueller Irrtum". Der Koran rufe nicht zum Mord auf, sondern "zum Kampf gegen seine Feinde", sagte der landesweit bekannte und geschätzte Imam. Der Antisemitismus habe seine Wurzeln anderswo – in Rachegefühlen, der Eifersucht oder der Ignoranz. Außerdem wirke der Nahostkonflikt bis in die französischen Vorstädte, wo Antisemitismus mit Antizionismus verwechselt werde. Wenn die Juden oft nicht mehr in diesen Wohnsiedlungen wohnen könnten, dann auch, weil der politische Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern in den Griff der Religion geraten sei.

Oubrou fragt, warum nur die französischen Muslime den Antisemitismus verurteilen sollten, die französischen Juden nicht aber die Übergriffe der israelischen Regierung. Das nähre ein Gefühl der Ungerechtigkeit unter den jungen Muslimen und verleite sie dazu, die Juden Frankreichs mit der Politik einer – der israelischen – Regierung gleichzusetzen.

Zweifel an Einfluss der Imame

Oubrou räumt zugleich ein, dass die islamischen Würdenträger "größere pädagogische Anstrengungen unternehmen" müssten, um den Antisemitismus in Frankreich zu bekämpfen. Aber er bekennt auch, dass die jungen Muslime "gar nicht mehr auf uns Imame hören".

Ein prominenter Mitunterzeichner des Manifests der 300 distanziert sich nun davon: Der französische Oberrabbiner Haïm Korsia sagte, er habe sich dem Aufschrei wegen antisemitisch motivierter Morden in der letzten Zeit anschließen wollen; mittlerweile denke er aber, dass es eigentlich ungehörig sei, von Muslimen die Änderung des Korans zu verlangen. Der Klartext des Manifests hat immerhin bewirkt, dass erstmals in Frankreich in aller Offenheit über die Orientierung des Korans debattiert wird. Und zwar nicht nur über die Köpfe der Muslime hinweg, sondern unter Einbeziehung wichtiger Stimmen des französischen Islams. (Stefan Brändle aus Paris, 24.4.2018)