Nicht amüsiert: Der türkische Staatschef Tayyip Erdoğan hörte am Montag, am Feiertag des Parlaments in der Türkei, zunehmend ungehalten einer Parlamentsrede von Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu zu. Der warf ihm einen "zivilen Putsch" vor. Erdoğan stand auf und ging.

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Ankara/Athen – Als großer Stratege ist er in den vergangenen acht Jahren an der Spitze der Partei nicht eben aufgefallen, doch nun überrumpelt Kemal Kılıçdaroğlu, der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP), Freund und Feind in der türkischen Politik.

Erst kam er der neuen Rechtspartei zu Hilfe und sicherte deren Teilnahme an den vorgezogenen Parlaments- und Präsidentenwahlen am 24. Juni. Dann traf er sich mit dem Chef der kleinen islamistischen Saadet-Partei. Und schließlich hält Kılıçdaroğlu die Tür offen für eine mögliche Unterstützung von Abdullah Gül in einer Stichwahl um das Präsidentenamt. Gül, der ehemalige Präsident und Außenminister, war einer der engsten politischen Weggefährten des heutigen Staatspräsidenten Tayyip Erdoğan.

Ein "seltsames Szenario", höhnte Erdoğan am Dienstag in seiner wöchentlichen Rede vor den Abgeordneten seiner Fraktion. Doch die Irritation war dem Staatschef anzumerken.

Überdachte Turnhalle

Dafür kündigte Erdoğan einen Wahlkampfauftritt bei den Auslandstürken an: "Im Mai werden wir wieder, so Gott will, unser erstes europäisches Treffen in einer überdachten Turnhalle in einem Land in Europa abhalten."

Zu Hause aber sammelt die Opposition, so schwach sie auch sein mag, nun ihre Truppen. Ziel ist, auf knapp über die Hälfte der nunmehr 600 Mandate im nächsten Parlament zu kommen und Erdoğan gleichzeitig in eine enge Stichwahl um das Präsidentenamt zu zwingen. "Bereit zur Selbstaufgabe" heißt die Losung, die Kılıçdaroğlu dafür nun ausgibt.

15 Abgeordnete seiner Fraktion ließ er am vergangenen Wochenende in die neue "Gute Partei" (İyi Parti) von Meral Akşener eintreten. Damit erreichte Akşener das notwendige Quorum für die Bildung einer Fraktionsgruppe im Parlament und die Qualifikation für die Teilnahme an den Wahlen in zwei Monaten.

Die nationale Wahlkommission in der Türkei, die offenkundig unter dem Einfluss des Staatspräsidenten steht, hatte zuvor den Ausschluss der Guten Partei signalisiert. Nach dem Abgeordnetenwechsel ließ sie die neue Rechtspartei zum Ärger Erdoğans zur Wahl zu.

Akşeners Partei wird Erdoğan Wähler bei den Parlamentswahlen wegnehmen, so erwarten Wahlforscher. Akşener selbst, eine frühere kurzzeitige Innenministerin, gilt aber auch als ernstzunehmende Herausforderin Erdoğans bei den Präsidentenwahlen. 40 bis 48 Prozent gaben ihr Umfragen in den vergangenen Wochen im Fall eines Stichentscheids. Die 61-Jährige erklärte am Dienstag auch ihre Kandidatur.

Zauderer Gül

Der andere denkbare Gegner Erdoğans, dem Chancen eingeräumt werden, ist Ex-Präsident Gül. Bis Ende der Woche soll feststehen, ob der immer noch populäre, auf Ausgleich bedachte Gül tatsächlich als Parteiloser gegen seinen ehemaligen Weggefährten Erdoğan ins Rennen geht. Gül hat die zunehmend autoritäre Herrschaft Erdoğans öffentlich mehrfach kritisiert. Doch er gilt als Zauderer.

Kandidiert Gül, würde er Stimmen aus allen Wählerlagern bekommen. Selbst der Sprecher der prokurdischen Minderheitenpartei HDP, Ziya Pir, kündigte die Unterstützung für Gül in einer zweiten Runde der Präsidentenwahlen an. Die HDP wird offenbar ihren inhaftierten früheren Parteichef Selahattin Demirtaş als Kandidaten nominieren.

Güls Ansichten will der Vorsitzende der kleinen Islamistenpartei Saadet, Temel Karamollaoğlu, am Mittwoch ausloten. Das ist ein weiterer Schachzug von Oppositionsführer Kılıçdaroğlu. Er traf – bis vor kurzem noch undenkbar – am Montag Karamollaoğlu. Dabei ging es sowohl um eine Präsidentenkandidatur Güls als auch um ein Wahlbündnis der Sozialdemokraten mit den Islamisten.

Derzeit gibt es nur ein solches Wahlbündnis: Erdoğans konservativ-islamische AKP tritt gemeinsam mit den Rechtsnationalisten der MHP an. Erdoğan hofft, damit zusätzliche Wähler zu gewinnen; die MHP wiederum muss sich nicht mehr um die hohe Zehnprozenthürde sorgen, die Parteien in der Türkei für den Einzug ins Parlament nehmen müssen. Kılıçdaroğlu schlägt nun ein Bündnis aller anderen Parteien vor, um diese Hürde zu umgehen: Saadet und die Gute Partei wären dabei. Auf eine eigene Kandidatur bei der Präsidentenwahl verzichtet Kılıçdaroğlu offenbar. (Markus Bernath, 25.4.2018)