Wenn Erwachsene kreativ sein sollen im Leben, muss man schon bald mit der Förderung von Kreativität anfangen. Sagen Sie Ihrem Kind bloß nicht, diese Bäume gibt es nicht.

Foto: privat
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"So einen Baum gibt es nicht." Diesen oder ähnliche Sätze hören Kinder leider immer noch in Österreichs Kindergärten und Schulen, wenn sie stolz ihr Bild herzeigen. Was macht dieser Satz mit unseren Kindern?

Kreativität, Individualität, innovativ sein, das wird gefordert von den Menschen, die künftig in Österreichs Unternehmen arbeiten werden. Doch unser Bildungssystem fördert über weite Strecken eher das Gegenteil. Gehorsame und "funktionierende" Bürger zu produzieren, das war jahrhundertelang die Grundausrichtung von Bildungseinrichtungen. Wie weit haben wir uns von diesem Konzept schon entfernt?

Kreativität fördern

Wie anders es sein kann, zeigt sich, wenn man die Kreativität der Kinder nicht in Bahnen lenkt, sondern dem "So geht das nicht" das Verständnis von "100 Sprachen hat das Kind" entgegenstellt. Dieser Satz stammt von dem Italiener Loris Malaguzzi, Pädagoge, Psychologe und Mastermind einer pädagogischen Richtung, die in der norditalienischen Stadt Reggio Emilia entstanden ist. Eine Reise dorthin zahlt sich aus.

In der sogenannten Reggio-Pädagogik werden Kinder, auch jene im Krippen- und Kindergartenalter, als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger angesehen, als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Egal ob es die internationale Fotokunstausstellung Fotografia Europa ist oder die Gestaltung einer Radunterführung: Kinder werden in Reggio Emilia gleichberechtigt einbezogen. Das fördert nicht nur das Selbstbewusstsein, es schafft mündige Menschen. Dabei handelt es sich nicht um private und teure "Reformpädagogik-Einrichtungen" für die Elite. In Reggio Emilia ist dieser Ansatz "state of the art", von den Krippen über die Kindergärten bis zu den Schulen. Das System wird von allen mitgetragen, bis hinauf zum Bürgermeister (siehe reggiochildren.it). Deshalb ist das Loris-Malaguzzi-Zentrum in der Stadt Pilgerstätte von Pädagoginnen, Pädagogen, Bildungspolitkerinnen und Bildungspolitikern aus aller Welt. Bildungsverantwortliche aus Österreich habe ich dort jedoch bisher nicht getroffen.

Bei den Kleinsten ansetzen

Es geht nicht um einen bestimmten pädagogischen Ansatz, es geht um das Selbstverständnis, wie Bildung gedacht wird. Beginnen muss man bereits sehr früh. Wunderbar, wenn es im Rahmen des Projekts "Schule im Aufbruch" darum geht, dass Kinder flexibel und nach ihren Begabungen gefördert werden. Der Gedanke, wie das dann in einer Zentralmatura enden kann, poppt kurz auf, führt uns aber auf ein Nebengleis. Ein bewusster Umgang mit der Ressource Begabung, Individualität und Kreativität muss bereits bei den Kleinsten ansetzen. Krippen und Kindergärten sind – endlich – als Bildungseinrichtungen zu verstehen, auch dann, wenn es nicht nur um Deutschkurse geht.

Dazu braucht es, wie Karin Riss folgerichtig in Ihrem Artikel "Kommen die Klugen zu kurz?" schreibt, "Orte der Inspiration und Ausbildung künftiger Pädagogengenerationen". Abgesehen davon, dass es vor allem Frauen sind und hier die alleinige männlich Form deplatziert erscheint: ja, aber bitte auch für Früherzieherinnen und Früherzieher, für Kindergartenpädagoginnen und Kindergartenpädagogen.

Kreativität ist als eine einheitliche Kompetenz zu verstehen, die im Leben sowohl zur persönlichen als auch zu gemeinsamen und gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten beiträgt. Es geht um dieses Selbstverständnis, das es zu verfolgen gilt, wenn Politikerinnen und Politiker, Expertinnen und Experten über unsere Bildungseinrichtungen diskutieren und entscheiden. Und dabei sind auch die Krippen und Kindergärten in das Konzept einzubeziehen.

Aus Kindern werden mündige Bürgerinnen und Bürger

Und um gleich einmal allen vorschnellen Reflexen den Wind aus den Segeln zu nehmen: Natürlich geht es dabei auch um Lesen, Schreiben und Rechnen. Das alles können die Kinder in Reggio Emilia auch. Allerdings geht es auch um viel mehr. Es geht um die Lernprozesse des Kindes, sein selbstbestimmtes Handeln, seine Teilnahme an gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen sowie um die Übernahme von Verantwortung. All das mündet in individuelle Selbst- und Weltdeutung, in mündige Bürgerinnen und Bürger eben. Aber vielleicht will man das ja gar nicht, oder?

Bei einem derartigen Verständnis geht es ganz grundsätzlich um einen bildungspolitischen, aber auch um einen demokratiepolitischen Ansatz, der kreatives Handeln, künstlerische Tätigkeit und Bildung für nachhaltige Entwicklung in den Mittelpunkt der pädagogischen Arbeit stellt.

Wenn wir von Erwachsenen Individualität, Kreativität und Lösungskompetenz erwarten, dann müssen auch die Schneemann- und Marienkäferschablonen endlich aus den Krippen, Kindergärten und Schulen verschwinden. Den unseligen Satz "So einen Baum gibt es nicht" darf es in Krippen, Kindergärten und Schulen des 21. Jahrhunderts nicht mehr geben. (Monika Seyrl, 2.5.2018)