Nein, die Sonne geht nicht von alleine auf. Sie geht auf, weil Mahaid den Morgen herbeiruft. Der Stammeshäuptling hebt das Zeremonialbeil, einen kunstvoll geschnitzten Stock, an dessen Ende eine fein geschliffene, schimmernde Klinge aus grünlichem Gestein steckt. Mit Wucht zerteilt er den blassen Mond am Himmel, macht der Sonne symbolisch den Weg frei – für ihren glutroten Aufgang am fernen Horizont.

Zwischen Lebenden und Toten

Wenn sie emporsteigt, legt der große, mit Armringen und Stirnband geschmückte Mann das Beil zur Seite und schreitet zurück zur Rundhütte, um sich seiner zweiten morgendlichen Aufgabe zu widmen. Er blinzelt der meterhohen Holzfigur auf dem kegelförmigen Dach entgegen, zeichnet mit gespreizten Fingern Kreise in die Luft und murmelt einen Gruß. Er, der von den Familien der Siedlung zum Grand Chef ernannt wurde, stellt jeden Tag aufs Neue die Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten her.

Das Neukaledonische Barriereriff ist das zweitgrößte Korallenriff der Welt. Seltene Meeresschildkröten tauchen dort eher auf als Touristen.
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Die Einwohner Neukaledoniens, einer zu Frankreich gehörenden Inselgruppe östlich von Australien, sind ein gemischtes Volk. Sie stammen aus Melanesien, Polynesien und Frankreich, in letzterem Fall nennen sie sich Caldoches und sind die Nachfahren der ersten Siedler aus Frankreich sowie französische Neueinwanderer.

Neukaledonien, das sind 300 Stämme, 28 Sprachen und Französisch als Amtssprache. Die meisten Menschen leben auf Grande Terre, der Hauptinsel, die 400 Kilometer lang und doppelt so groß wie Korsika ist, einige wenige auf den kleinen vorgelagerten Inseln Ouvéa, Lifou, Maré, Bélep und Île des Pins. Den größten Anteil der Bevölkerung machen die Ureinwohner aus, die Kanaken. Das Wort kommt aus dem Hawaiianischen und bedeutet Mensch.

Indigene für Unabhängigkeit von Frankreich

Im November dieses Jahres werden die Einwohner per Referendum über ihre Unabhängigkeit entscheiden, Neukaledonien könnte ein unabhängiger Staat werden. Bereits 1987 gab es einen Volksentscheid: Damals stimmten die Bewohner der Inselgruppe jedoch mit überwältigender Mehrheit gegen die Loslösung von den einstigen französischen Kolonialherren.

Schon derzeit macht Neukaledonien seine eigenen Gesetze, Paris hat lediglich die Hoheit über die Verteidigungs- und die Außenpolitik. Knapp die Hälfte der Einwohner sind Indigene. Sie befürworten die Unabhängigkeit mehrheitlich, wogegen die europäischstämmige Bevölkerung tendenziell für den Verbleib bei Frankreich ist.

Beim Grand Chef

Die Stämme haben auf der Insel bis heute große Bedeutung, sie funktionieren wie Gemeinden. Der Grand Chef – wie Mahaid einer ist – gilt als Autorität des Stammes. Er lässt nicht nur die Sonne auf- und untergehen, sondern kümmert sich auch um die Belange seiner Leute, achtet auf ein harmonisches Zusammenleben und wacht über die gerechte Verteilung von Lebensmitteln, Geld und Besitztümern: "Als Erbsohn der Ahnen bin ich für ihr ewiges Wohlwollen zuständig und dafür, dass dieses Wohlwollen für alle spürbar ist." Er fügt hinzu: "Die Figur auf dem Dach stellt den vor Urzeiten verstorbenen Stammesvater dar, der als Schutzpatron über uns wacht."

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Die melanesischen Ureinwohner Neukaledoniens pflegen ihre Bräuche bis heute.
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Der Gedanke, dass Tote jederzeit die Möglichkeit haben, unmittelbar in die Existenz Lebender einzugreifen, führt zur Überzeugung, die Güte der Ahnen durch rituelle Handlungen zu erneuern. Jeder Stamm hat auf der Dachspitze der Rundhütten eine Skulptur. Die geschnitzten Mundwinkel des Maskengesichts zeigen nach oben. "Dieses Lächeln meint uns, es ist das Lächeln der Vergangenheit."

Rede und Gegenrede

Mit einer behäbigen Bewegung, ganz ohne Eile, dreht sich Mahaid um und schaut zu den Frauen hinüber, die sich der Siedlung nähern. Mit festem Schritt schreitet er auf die vier Ankömmlinge zu und bleibt einige Meter vor ihnen stehen. Die Fremden, französische Touristinnen, wissen um die Wichtigkeit des nun folgenden Rituals. Mit gesenktem Blick – dem Grand Chef darf man nicht direkt in die Augen sehen – legen sie einen buchdicken Stoffballen, ein gelbes Päckchen Vanilletabak und einen zusammengefalteten Geldschein in die Mitte. Eine von ihnen erbittet in einer kurzen Rede, den Stamm besuchen zu dürfen.

Mahaid setzt zur minutenlangen Gegenrede an, bückt sich schließlich, um das Geschenk zu berühren – als Zeichen: "Hier seid ihr willkommen." Ein Gehilfe eilt herbei, um traditionsgemäß die Gaben an die Bedürftigen des Stammes zu verteilen. Dieses Prozedere gilt für jeden Gast, ob Häuptlinge anderer Stämme, Bürgermeister oder Abgeordnete der Inselregierung.

Neukaledonien wird auch als "Frankreichs Juwel in der Südsee" bezeichnet. Die Frage ist wie lange noch.
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Mahaid führt die Fremden zu zwei Rundhütten. Während Erstere nur dem Grand Chef vorbehalten ist, ist die zweite Hütte ein Gemeinschaftshaus, genauer das Gemeinschaftshaus für die Nacht. Dort sind gerade Frauen, gehüllt in orangefarbene Missionarskleider, und Kinder in Jeans und lässigen T-Shirts dabei, Schlafmatten zusammenzurollen und an der Seite des großen Raumes zu stapeln.

Obwohl alle Familien des Stammes in ihrem eigenen Haus wohnen, treffen sich sie sich am Abend nach dem Essen gern zum gemeinsamen Schlafen. Es gilt: Man kann, muss aber nicht. Jeder entscheidet das Abend für Abend neu. Der zwölfjährige Daniel nächtigt, obwohl er mit seinen zwei Brüdern ein großes Kinderzimmer hat, gern in der Gemeinschaftshütte. "Da treffe ich meine Freunde und meine Cousins. Wir spielen Domino oder plaudern ein bisschen."

Gemeinsame Schlafstätte

Seine Mutter liebt die Hütte, weil sie, was Klatsch und Tratsch betrifft, so immer auf dem neuesten Stand ist: "Außerdem fühle ich mich in der Gemeinschaft geborgen, meinem Mann geht das auch so."

Die Tradition der gemeinsamen Schlafstätte reicht weit zurück. Als auf dem Land noch bittere Armut herrschte und sich nicht jede Familie ein Haus leisten konnte, baute man ein großes Anwesen, damit jedes Stammesmitglied wenigstens in der Nacht eine feste Bleibe hatte.

Nouméa, die Hauptstadt von Neukaledonien
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Es ist zu spüren – im Kollektiv verbrachte Nächte schweißen zusammen. Auf der ganzen Insel ist es üblich, dass man sich höflich grüßt. Wenn sich jedoch zwei begegnen, die zum selben Clan gehören, gibt es ein Hallo, als ob man sich Jahre nicht gesehen hätte. Dabei ist man doch erst am Morgen aus derselben Hütte gekrabbelt.

Wenn die Sonne aufgegangen ist, geht jeder seinem Tagwerk nach: Die Kinder sind in der Schule, die Männer rüsten sich für die Jagd, und die Frauen ernten auf dem Feld Gemüse. "Heute gibt es Bougna", weiß Daniel und streicht genüsslich über seinen Bauch. Dafür werden Igname, Süßkartoffeln, Maniok und Taro geschält, Tomaten und Kürbis klein geschnitten, Fisch filetiert, Krustentiere und Kokosmilch zugegeben.

In Bananenblättern eingewickelt, köcheln die Bougna-Bündel zwei Stunden auf heißen Steinen. Das in der Bougna enthaltene Igname ist eine Gemüseknolle, die auf Neukaledonien eine große Bedeutung innehat, da sie Generationen half, in Notzeiten zu überleben. Als es noch kein Geld gab, war Igname Zahlungsmittel, ein Mann bekam erst das Recht, eine Frau zu heiraten, wenn er ausreichend viele Knollen besaß, um eine Familie ernähren zu können.

Klar aufgeteilt

In Neukaledonien haben Männer und Frauen jeweils "ihre" Pflanzen. Die mit Sonnenriten verbundenen trockenen und härteren Pflanzen wie Igname bleiben der Hege und Pflege der Männer überlassen. Kokospalmen oder Taro, Gewächse, die viel Regen benötigen, sind Sache der Frauen.

Überhaupt sind die Dinge des Lebens klar aufgeteilt: Männer fischen und jagen, Frauen hüten das Haus, flechten aus Kokosblättern Matten, Körbe, Hüte und bessern ihre weiten, bunten Kleider aus. "Wir leben anders als in der westlichen Welt. Für Europäer liegt der Reichtum in den Banken, wir haben ihn unter den Füßen. Wir leben von der Fruchtbarkeit der Natur, die wir bewahren. Es ist selbstverständlich, dass wir keinen Abfall herumliegen lassen, unsere Felder sorgsam bestellen. Und viel Hirsch essen, wir müssen sie schießen, um unsere Wälder zu schützen. Sonst fressen die alles ab", sagt Mahaid.

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In der Hauptstadt Nouméa gestaltete der italienische Architekt Renzo Piano ein Kulturzentrum, das an ihre Wohnhütten erinnern soll.
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Es gibt tatsächlich viele Hirsche auf Neukaledonien. Französische Kolonialherren hatten im 19. Jahrhundert ein paar Tiere mitgebracht, denen gefiel es so prächtig, dass sie sich rasant vermehrten. Mittlerweile gibt es an die 140.000 – bei nur 260.000 Einwohnern.

Ein Lied von Liebe und Leid

Neukaledonien wäre vielleicht ein wenig zu beschaulich, wenn es nicht Nouméa gäbe. Die Hauptstadt, luftig an feinsandigen Buchten gelegen, macht klar: Sie ist die Metropole, und alles, was außerhalb ihres Einzugsgebiets liegt, also 99 Prozent von Grand Terre, ist der Busch. Die Stadt feiert sich selbst, mit teuren Modeboutiquen, exklusiven Restaurants, feiner Uferpromenade mit Strandpartys und einer erlesenen Kultur samt Kino, Theater und Museen. Aus meterhohen Lautsprechern schallt Musik, überwiegend einheimischer Reggae, Kaneka. Edou, ein kaledonischer Sänger mit heller Stimme, ist Kult, singt von Liebe und Leid, auch von Freiheit und dem nicht endenden Kampf um die Unabhängigkeit.

Obwohl in Nouméa überwiegend Europäischstämmige leben, ist die Hauptstadt auch kulturelles Zentrum der Kanaken. Stolz sind sie auf den Kulturtempel Tjibaou, der die Historie ihrer Heimat widerspiegelt. In zehn überdimensionalen, halb offenen Rundhütten aus Stahl und Hartholz veranschaulichen Gemälde, Skulpturen und historische Funde die melanesische Geschichte. In all den Ausstellungen geht es oft weniger um die Wiedergabe der Wirklichkeit als um die Beschwörung des Mysteriösen, des "Anrufens" der verborgenen Seele des Menschen und der ihn umgebenden Dinge.

Benannt ist das von Renzo Piano gestaltete Kulturzentrum Tjibaou nach dem Priester Jean-Marie Tjibaou, der sich für die Eigenständigkeit Neukaledoniens eingesetzt hat. Auf dem Kulturtempel weht bereits die blau-grün-rote Fahne mit ihrem gelben Sonnenkreis, in dem ein geformter Speer markant hervorsticht. Es ist die Fahne der Unabhängigkeitspartei, die seit 2010 als offizielle Flagge Neukaledoniens anerkannt ist. (Birgit Weidt, RONDO, 26.4.2018)