Wien – Omar wirbelt durchs Wohnzimmer, kriecht unter den Tisch, hängt sich an seine Mutter, verlangt nach Süßigkeiten. Wie das Dreijährige halt so machen. Sieht er aus dem Fenster, erblickt er Wiener Dächer, eines nach dem anderen. Das ist nun seine Heimat. Obwohl, Heimat ist ein großes Wort, sagt seine Mutter. Die der Eltern hat Omar nie zu Gesicht bekommen. Deraa, jene Stadt, in der der mittlerweile mehr als sieben Jahre alte Syrien-Konflikt seinen Ausgang genommen hat. Das, was dem Vater dort widerfahren ist, ist der Grund dafür, dass Omar nun in Österreich aufwächst.

Knapp 2400 Kilometer Luftlinie liegen zwischen der österreichischen Hauptstadt und Deraa, der Rebellenbastion im Süden Syriens. Die Familie Bajbouj hat den Weg zurückgelegt, ohne Schlepper zu engagieren, ohne die gefährliche Bootsfahrt über das Mittelmeer anzutreten. Sie gehört zu jenen Privilegierten, die über eine Neuansiedlung, das sogenannte Resettlement, nach Europa gekommen sind. Also ganz legal.

2015 sind Adnan Bajbouj und Raya Alissa nach Österreich gekommen.
Robert Newald

Resettlement, hinter diesem Begriff steckt so vieles, vor allem seit dem Beginn der großen Flüchtlingskrise im Jahr 2015. Immer wieder haben europäische Spitzenpolitiker diese legale Einreisemöglichkeit als Teil einer Lösung ins Spiel gebracht – und um damit verstärkten EU-Außengrenzschutz zu rechtfertigen. Auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat einst als Außenminister immer wieder Resettlement-Programme gefordert. Sie sollen, da sind sich Experten einig, den Migrationsdruck in Richtung Europa senken.

Zusagen aus Deutschland

Mittlerweile gibt es verschiedene Programme, unter anderem von der EU. Im September 2017 empfahl die EU-Kommission, bis Ende 2019 weitere 50.000 Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Nordafrika aufzunehmen. Erst vor kurzem gab der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) – in Flüchtlingsfragen eher ein Hardliner – bekannt, dass Deutschland in diesem Rahmen 10.200 Flüchtlinge aufnehmen werde.

Österreich hat seit 2013 drei Resettlement-Programme für syrische Flüchtlinge durchgeführt. Dabei wurden laut Innenministerium insgesamt 1501 Personen aufgenommen, darunter auch die Familie Bajbouj. Ihre Geschichte beginnt in Deraa. Dort starteten im Februar 2011 mit regimekritischen Graffiti die ersten Proteste gegen Machthaber Bashar al-Assad, die schließlich in den Krieg mündeten.

Angriff mit Flugzeugen und Panzern

"Wir haben uns an den Protesten nicht beteiligt, aber Wasser an die Menschen verteilt und die Rettung gerufen, wenn jemand verletzt war", sagt Raya Alissa, die 39-jährige Mutter von Omar. Sie selbst war in der Stadt nahe der jordanischen Grenze als Lehrerin tätig, ihr Mann Adnan Bajbouj, heute 47, hat eine Molkerei betrieben. Dann schlug das Regime zurück. "Sie griffen mit Flugzeugen an, mit Panzern. Die Soldaten kamen in die Wohnungen und nahmen alle Männer mit."

Ihr Mann sitzt neben ihr, während Alissa in noch nicht ganz perfektem Deutsch von ihrem Leben in Syrien erzählt. Oft sieht er gedankenverloren zu Boden, dann immer wieder zu seiner Frau. Er spricht kein Deutsch, aber er scheint zu wissen, worum es gerade geht. "Ich habe den Soldaten gesagt, dass er nichts gemacht hat, aber sie haben mir nicht geglaubt." Sie brachten ihn in ein Gefängnis nach Damaskus, erst nach drei Monaten kehrte er zurück. Was dort passiert ist? Sie holt mit ihrem rechten Arm aus und ahmt Schläge nach. "Immer und immer wieder", erklärt sie.

Raya Alissa arbeitet als Begleitlehrerin für Flüchtlinge.
Robert Newald

Die Folgen sind von Dauer. Den Rücken hat es am schlimmsten erwischt, jede Bewegung hat geschmerzt. Auch von Schwindelanfällen wurde er geplagt. Alissa greift sich an die rechte Gesichtshälfte, dort dürften sie besonders oft zugeschlagen haben.

Gewartet haben sie noch bis 2013, dann wurde ihnen klar, dass der Krieg so bald nicht enden würde. Sie flüchteten zu Fuß nach Jordanien, zuerst ins Flüchtlingscamp Zaatari, das Bundespräsident Alexander Van der Bellen dieser Tage besucht hat. Nach zwei Monaten wechselten sie in eine Wohnung nach Irbid und versuchten Fuß zu fassen – mit überschaubarem Erfolg. Dann, im Jahr 2014, meldete sich das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR). Es ging um Resettlement.

Lange Resettlement-Prozedur

Die Neuansiedlung ist für vulnerable Personen gedacht, besonders Schutzbedürftige. Darunter fallen unter anderem gefährdete Frauen und Mädchen, medizinische Notfälle, oder eben Folteropfer, wie Adnan Bajbouj eines ist. Dabei geht das UNHCR sehr streng vor. Es gibt zahlreiche Gespräche von verschiedenen Personen mit den Kandidaten. "Sie haben meinem Mann viele Fragen über seine Zeit im Gefängnis gestellt", sagt Raya Alissa. Doch sie haben Verständnis für die ganze Prozedur, sie wissen, "was für ein Glück es ist", für Resettlement auserwählt zu werden.

Hat das UNHCR schießlich ein Dossier der Resettlement-Kandidaten erstellt, wird es an das UNHCR-Büro und die Behörden des potenziellen Aufnahmelandes geschickt – in Österreich ist dafür das Innenministerium zuständig. Das verlässt sich in der Regel auf dieses Dossier, andere Länder wie die USA prüfen selbst noch vor Ort die Kandidaten.

Im Frühjahr 2015 erfolgte schließlich das Okay für Familie Bajbouj. Lange mussten sie nicht überlegen. "Wir haben noch Familie in Deraa. Die haben uns am Telefon gesagt, dass es dort immer schlimmer wird", sagt Raya Alissa. Also entschieden sie sich für einen Neustart in Österreich, denn "unsere Kinder sollten eine Zukunft haben".

Der dreijährige Sohn Omar wurde in Jordanien geboren.
Robert Newald

Am Flughafen Wien-Schwechat angekommen, warteten bereits Mitarbeiter der Caritas auf sie. Denn die Arbeitsgruppe ARGE Resettlement, bestehend aus Caritas, Diakonie und Rotem Kreuz, unterstützt die Menschen bei der Neuansiedlung. "Ich habe mit anderen Flüchtlingen geredet, die viele Probleme haben, weil ihnen keiner hilft. Ich kann immer jemanden anrufen, der mich unterstützt."

Das Reich des Sohns

Über den Umweg Wiener Neustadt sind die Bajboujs mit ihren fünf Kindern nun in Wien-Rudolfsheim untergekommen. Ihr Zuhause ist jetzt eine 97 Quadratmeter große Drei-Zimmer-Wohnung im vierten Stock eines Altbaus. Der älteste Sohn, Ibrahim, muss nicht mehr bei den Mädchen schlafen, sondern hat sein Bett im Wohnzimmer. Das sei sein Reich, sagt der 17-Jährige mit einem Grinsen im Gesicht.

Nun, nach drei Jahren in Österreich, haben sie sich relativ gut eingelebt. Die Kinder sprechen alle deutsch und gehen in die Schule. Die Mutter arbeitet seit Anfang 2017 als Begleitlehrerin für Flüchtlinge. Nur der Vater hat so seine Schwierigkeiten. Die Sprache sei ein großes Problem, übersetzt seine Frau, und die Gesetze. Denn er könne keine Molkerei aufmachen, dafür bräuchte er eine Lizenz.

Wegen Kopftuchs angespuckt

Sie selbst, sagt Raya Alissa, sei hingegen sehr glücklich. Zweimal, in Wiener Neustadt, wurde sie angespuckt, weil sie ein Kopftuch trug. Und durch die neue Regierung, sagt sie, werde es nun schwieriger für Ausländer. Doch eine Rückkehr nach Syrien, selbst wenn es dort mal Frieden geben sollte, kann sie sich nicht vorstellen. "Wir sind jetzt in Österreich, wir haben viele Chancen hier und wollen wie normale Menschen leben."

Für andere Syrer besteht vorerst keine Möglichkeit mehr, über Resettlement nach Österreich zu kommen. Das letzte Programm lief Ende 2017 aus. Für ein weiteres gibt es derzeit keine konkreten Überlegungen, erklärte das Innenministerium auf STANDARD-Anfrage. (Kim Son Hoang, 7.5.2018)